Das Puppenzimmer - Roman
ich das Geschehene am eigenen Leib. Ich teilte ihre Schmerzen, wenn sie vom Eisen sprach; ich fühlte die Wärme und Farben der Träume, das Glück und den Kummer. »Es tut mir leid«, sagte ich, als wäre es meine Schuld, als hätte ich die Eisenbahn gebaut, aber es reichte schon, dass ich mir gewünscht hatte, einmal damit fahren zu dürfen.
»Entschuldige dich nicht«, entgegnete Violet. »Wir entschuldigen uns niemals. Es gibt keine Entschuldigungen, nur Schuld und Unschuld. Wir entschuldigen nicht, und wir verzeihen nicht. Du hast nichts getan, Kind. Die Zeiten haben sich geändert, nicht die Menschen. Ihre Erfindungen haben nur zutage gebracht, was immer schon in ihren Herzen lag: Kälte und Gier. Aber wir geben sie nicht auf, nicht die Menschen und nicht ihre Welt, auch wenn wir dafür zu verzweifelten Mitteln greifen müssen.« Sie nickte Rufus zu, weniger als Einladung, wieder Platz zu nehmen, denn mit einem vorwurfsvollen Blick – als ob das Reden sie angestrengt hätte und das nur seine Schuld war, weil er es nicht fertiggebracht hatte, mir die Zusammenhänge begreifbar zu machen.
»Wir können die Menschenwelt betreten«, sagte Rufus, »aber wir haben dort keine Körper. Wir können borgen, wir können stehlen, aber das eine wie das andere ist mit großen Einschränkungen verbunden. Lädt uns ein Mensch ein, den Körper mit ihm zu teilen, und wir nehmen das Geschenk an, kann der Moment kommen, wo er bereut und die Herrschaft über seinen Körper zurückhaben will – dann endet der Pakt, und wir werden zurück in die Feenwelt geschleudert. Ergreifen wir gegen seinen Willen Besitz von einem Sterblichen, kann sich dieser uns nicht widersetzen, aber wir müssen sein Wesen unterdrücken, unentwegt, was Kraft kostet und auch, sollte die Tat bekannt werden, eine neue Jagd auf uns zur Folge haben kann. Was bleibt, sind die Körper, die niemand mehr braucht: Verstorbene, vom Leben verlassen, leere Hüllen ohne Wert, die von den Würmern gefressen werden und die niemand vermisst, wenn wir sie uns nehmen.«
Jetzt musste ich schlucken. Er sprach so beiläufig von den toten Körpern, als wären sie nur die Abfallprodukte des Lebens … »Und die Feenseelen sind bis dahin in den Puppen?«, fragte ich vorsichtig. Ich wollte mich nicht durch eine dumme Bemerkung verraten, doch ganz stumm konnte ich diese Geschichte nicht ertragen – vor allem aber wünschte ich mir, dass Rufus von etwas anderem sprach als von Leichen.
Jetzt wurde sein Lächeln mitleidig. »Feenseelen?«, fragte er und klang fast amüsiert dabei. »So etwas gibt es nicht. Wir haben keine Seelen.« Vermutlich musste ich ihn sehr entgeistert angestarrt haben, denn er lachte leise und sagte: »Wir bedürfen keiner Seelen. Wir sind unsterblich. Ein menschlicher Körper braucht eine Seele, um leben zu können. Für Feen gelten andere Maßstäbe. Wir wurden nicht erschaffen, wir werden nicht geboren, wir sind. Seelen sind für Sterbliche. Arme, bedauernswerte Geschöpfe.«
Ich verstand ihn nicht. Wenn Feen keine Seelen brauchten, wofür waren dann die Puppen? Und warum spürte ich, dass die Seele aus Janet nun in Blanche war? »Aber was … was ist dann …?«, stammelte ich und wusste nicht einmal, ob ich eine Antwort noch ertragen würde. Ich war bereit, an Feen zu glauben und an all das, was Violet mir erzählt hatte, an wandelnde Leichen und sogar an lebende Puppen. Aber dass diejenigen, die mir gegenübersaßen, keine Seelen haben sollten, wie die Tiere, und doch sprachen und lachten und lebten – das machte mir Angst.
»Du solltest besser deinen Wein trinken«, sagte Rufus leise. »Er ist nicht zu deiner Erbauung da, sondern um dir das Verstehen zu erleichtern. Wenn er in dein Blut übergeht, sickern gleichzeitig unsere Worte in dich ein. Oder, falls du schon genug Erklärungen an diesem Tag gehört hast: Er ist verzaubert, also trink ihn.« Rufus wartete, bis ich zumindest genippt hatte, bevor er weitersprach, und ich schmeckte wieder diese süße Schärfe, von der ich nicht sagen konnte, woran sie mich erinnerte.
»Wie ich schon sagte«, Rufus legte die Hände zusammen wie zum Gebet, während er redete, »ein menschlicher Körper braucht eine Seele, um leben zu können. Wir können nicht einfach in einen toten Leib hineinfahren und erwarten, dass wir mit ihm herumlaufen können, als wäre es unser eigener – er ist immer noch tot. Seine eigene Seele ist ihm längst entwichen, und so haben wir keine Wahl, als uns selbst eine geeignete neue
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