Das Puppenzimmer - Roman
wiederum zwei Türen abgingen. Am Ende fand ich mich in einem bezaubernden Zimmer mit blassvioletten Seidentapeten und blattgoldverzierter Stuckdecke wieder, in dem die Lady – beschienen von der Sonne, die durch die vier hohen Fenster hereindrang – auf einer Ottomane saß. Vor ihr stand ein gedecktes Tischchen, umgeben von drei kleinen Sesseln. Augenscheinlich hatte sie auf mich gewartet, denn keiner der Teller wirkte benutzt, keines der Honigbrote war auch nur angebissen.
»Hier bringe ich das Mädchen«, sagte Mr. Molyneux, und ich kam gerade noch rechtzeitig auf die Idee, einen Knicks zu machen.
»Setz dich«, sagte die Lady, »bitte, setz dich.« Sie deutete auf den Sessel zu ihrer Linken. Ihre Stimme war süßer als der goldene Honig, und jetzt, im Hellen und ohne Hut, konnte man sehen, dass sie wirklich wunderschön war. Ihr Haar, aschblond, saß in einem üppigen Kissen auf ihrem Kopf – zwar trug unsere Vorsteherin die Haare ähnlich, aber was bei Miss Mountford streng und steif aussah, war hier bezaubernd. Man konnte nicht sagen, dass die Lady ihrem Bruder sehr ähnlich sah, außer dass sie beide keinen Deut Farbe im Gesicht hatten, selbst ihre Lippen waren mehr fliedergrau denn rosig. Aber auch ihr konnte ich nicht in die Augen blicken und starrte unwillkürlich auf meine Füße.
Ich nahm Platz, nachdem ich abgewartet hatte, dass Mr. Molyneux sich nicht in den gleichen Sessel setzen wollte, und blickte dann sehnsüchtig auf die kleinen runden Honigbrötchen, während mir das Wasser im Munde zusammenlief. Ich hatte seit dem Vortag nichts gegessen und hätte schwören können, dass auf jedem von ihnen » Iss mich « geschrieben stand.
Eigentlich wäre ein Dienstmädchen nötig gewesen, um den Tee einzuschenken, aber zu meinem großen Erstaunen griff die Lady persönlich zur Kanne und goss Tee in unsere Tassen. Vielleicht hatte sie Angst, ein Diener könnte das edle Porzellan zerbrechen? Der Hauch des Heruntergekommenen, der alles, was ich bis jetzt von Hollyhock gesehen hatte, umgab, fehlte hier in diesem Raum, und ich vermutete, dass dies das Lieblingszimmer der Lady war und sie sich persönlich darum gekümmert hatte, es als allererstes wieder herzurichten.
»Trink nur«, sagte sie, »und iss. Es ist lange her, dass du zuletzt etwas zu dir nehmen konntest, und du sollst nicht denken, dass du hier Not leiden musst.«
Trotzdem brauchte es noch zwei aufmunternde Nicken, ehe ich tatsächlich zulangte. Und dann, der erste Bissen … So etwas hatte ich im Leben noch nicht gekostet. Es war süß, wie ich erwartet hatte, aber mein Mund und mein ganzer Kopf füllten sich mit einem Gefühl von Gold, und ich schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Der Tee dazu war anders als alles, was ich kannte, fast farblos und ohne Milch oder Zucker, aber er schmeckte, als würde man Blütennektar trinken. Und wenn sie mich gleich aus dem Haus jagten und ich zu Fuß nach St. Margaret’s zurücklaufen musste, allein der erste Bissen vom Honigbrötchen und der erste Schluck Tee wären es wert gewesen.
»Danke«, brachte ich hervor, nachdem ich meinen Mund geleert hatte. Schweren Herzens verzichtete ich darauf, sofort die nächste Brötchenhälfte hinterherzustopfen, was mir in der Tat schwerfiel. »Und vielen Dank für das Kleid.« Ich wäre froher gewesen, es nicht tragen zu müssen, aber das mussten sie ja nicht wissen. »Es ist –« Mr. Molyneux unterbrach mich.
»Iss«, sagte er, »und hör zu. Du hast uns gerade nichts zu sagen, was wir nicht schon wüssten, und um dankbar zu sein, musst du dich nicht in ein Hündchen verwandeln, es bedeutet uns nichts. Du hattest Fragen an uns – nun sollst du die Antworten erhalten.«
Ich fühlte mich erröten und hatte damit genug Farbe für uns drei zusammen, aber ich verbarg mein Gesicht schnell hinter meiner Teetasse, die ich vorsichtig an ihrem zarten Henkelchen anfasste, in der Erwartung, sie könne jeden Moment unter meinem Griff zerbrechen. Brav hielt ich meinen Mund.
Die Lady nickte, und ihr Bruder fuhr fort: »Ich möchte damit beginnen, uns vorzustellen, denn ich kann nicht erwarten, dass du jemals von uns gehört hast oder von Hollyhock. Ich bin Rufus Molyneux, und dies ist meine Schwester Violet. Wir haben Hollyhock vor drei Monaten geerbt, in einem schlechten Zustand, da die vorherige Besitzerin, die unsere Tante war, zu alt und gebrechlich war, um den Überblick über die nötigen Arbeiten zu behalten. Und da sie die Menschen mied, starb sie vereinsamt und nur
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