Das Puppenzimmer - Roman
doch sehr fremd …
Warum wunderte ich mich darüber? So war es immer gewesen, so würde es immer sein: Es gab die Hierarchie, es gab das Protokoll, es gab den Hof, und alles war so, wie es war, schon immer und auf ewig – man nahm es hin und hinterfragte es nicht. Vielleicht hatte Violet recht. Ich hatte wirklich zu lange unter Menschen gelebt, und jetzt verwässerten sie meine Gedanken.
Ich durfte es nicht übertreiben. Ehe ich nicht meinen ersten Tag als Fee gelebt, meine erste Nacht als Fee geträumt hatte, konnte ich mich auf nichts, was ich tat oder sagte, verlassen. Es würde dauern, bis ich alles Menschliche abgeschüttelt hatte.
»Du darfst dich entfernen«, sagte Violet. »Warte im Puppenzimmer, bis wir dich rufen lassen!«
»Warum im Puppenzimmer?«, fragte ich, zu schnell, zu spontan, zu menschlich. Ich hätte erwartet, mich frisch machen zu dürfen, vielleicht einen Moment lang ruhen, auch wenn die Vorstellung, in dem jämmerlichen Zimmer des Mädchens hausen zu müssen, mich abstieß. Ich würde nicht nach einer neuen Unterkunft fragen; Violet wusste, dass dieses alte Quartier unter meiner Würde war, und ich hoffte, dass auch das zu den Dingen gehörte, die sie mit Rufus zu besprechen hatte. Aber ausgerechnet ins Puppenzimmer zu müssen … »Ich werde in die Bibliothek gehen«, entgegnete ich. »Ich bin noch zu erschöpft von meinem Erwachen, als dass ich heute schon wieder mit den Puppen arbeiten könnte, und da ich sie vor wenigen Tagen zuletzt gesehen habe, kann in der Zwischenzeit noch keine neue herangereift sein, das braucht seine Zeit …«
»Belehr mich nicht«, sagte Violet scharf, »und mach mich nicht zornig. Geh in die Bibliothek, von mir aus, aber sieh zu, dass du dort deinen Platz wiederfindest.« Dann lächelte sie knapp. »Du kommst mit leeren Händen zurück – was ist aus dem Picknick geworden, das du angerichtet hast?«
»Nicht ich«, sagte ich, auch wenn es bedeutete, Violet noch einmal verbessern zu müssen. »Das Mädchen. Die Sachen sind noch im Garten. Ich werde jemanden vom Personal hinausschicken, um sie hereinzuholen, wenn Ihr Wert darauf legt.«
Violet antwortete nicht, verriet mir nur mit ihrem Blick, dass ich gerade ihre Geduld über Gebühr strapazierte. Ich beeilte mich, mit einer tiefen Verneigung meinen Abschied zu nehmen, und machte mich auf den Weg in die Bibliothek. Ich schüttelte den Kopf. Meine Erleichterung, nicht in das Puppenzimmer zu müssen, überraschte mich selbst – als ob ich dort etwas zu befürchten hatte: Wenn überhaupt, mussten sich die Puppen vor mir fürchten. Aber das Mädchen hatte so große Pläne für sie gehabt … Nein, es interessierte mich nicht, was das Mädchen geplant haben mochte. Ich hatte ihm dabei zugesehen, nicht zugehört. Die Puppen waren eine Menge Arbeit, aber mehr auch wieder nicht. Außer vielleicht Hoffnung für die Feen –
Es gefiel mir nicht, was ich dachte, was mir herausrutschte, wenn ich nicht auf meine Selbstbeherrschung konzentriert war. Hatte ich doch zu wenig von dem Lethewein getrunken? Es konnte nicht sein, ich war erwacht; entweder ich war eine Fee, oder ich war keine, und ich war mir meiner selbst so bewusst, dass es an meinem Erwachen keinen Zweifel gab. Ich war nur noch nicht daran gewöhnt. In meiner Zeit unter den Menschen hatte ich verschiedene Körper besessen, war neu geboren worden, wenn der alte starb, und auch wenn sich bei dem einen oder anderen ein Funken meiner selbst durch das Tuch des Unwissens gebrannt hatte, in keinem dieser Körper hatte ich jemals erwachen können, und auch jetzt war es nur durch fremde Hilfe geschehen.
Ich wusste nicht, wie sich eine Fee zu fühlen hatte, die in einem menschlichen Körper geboren war, und die hatte miterleben müssen, wie ihr menschlicher Körper starb. Wobei » miterleben « das falsche Wort war – es war nicht an mir hängengeblieben, ich hatte keine Erinnerung an meine früheren Körper, zu unerträglich wäre es gewesen, 100 Jahre lang wach und hilflos in Körper eingesperrt zu sein, die keinen anderen Zweck hatten, als mich einer fleischigen Rüstung gleich vor den Schrecken des Eisens zu beschützen. Meine ersten Schritte in dieser Welt mussten klein sein. Ich wusste, wer ich war, was es hieß, eine Fee zu sein, aber was wusste ich denn sonst noch? Nichts.
Rufus war in der Bibliothek. Seit Blanche gestorben war, sah ich ihn nun zum ersten Mal wieder über der Zeitung, wie üblich auf der Seite mit den Todesanzeigen. Sooft Rufus auch die
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