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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Es war nicht die Idee des Mädchens gewesen – ich hatte es erst auf den Gedanken gebracht. Wenn jemand also ein Lob verdiente, war ich es, und ich gönnte es mir. Irgendjemand musste ja damit anfangen. Und ich hatte an diesem Tag noch genug vor mir.
    Der Junge schaute mich an aus Augen, deren glasiger Schimmer die Leere nicht verdecken konnte, die sich dahinter aufzutun begann. Die Augen waren hübsch für einen Menschen; ich konnte verstehen, was das Mädchen an ihnen gefunden hatte – aber dann wieder hatte es keine große Auswahl gehabt, sondern sich dem erstbesten Burschen an den Hals geworfen, der ihm über den Weg lief. Er lächelte mich an. Wusste er, wem sein Lächeln galt?
    »Nimm noch Wein«, sagte ich. »Es wäre doch schade, wenn etwas übrig bleibt.« Ich schauderte insgeheim. Natürlich wollte ich mich nicht wirklich mit einem angetrunkenen jungen Burschen herumschlagen, der nicht erwarten konnte, mich aus meinem Kleid zu zerren, aber ich musste sicher sein, dass er auch wirklich seinen Anteil an dem Lethewein bekam. Ich musste die Gerissenheit des Mädchens anerkennen – wie es zu Violet gegangen war, um dann ganz unschuldig und besorgt zu tun: »Rufus hat gesagt, der Wein kann einen Menschen die Feen vergessen lassen, und ich bin doch auch noch zur Hälfte ein Mensch – was ist, wenn ich nicht erwache, sondern alles vergesse?«
    Violet schöpfte keinen Verdacht, sie ahnte nichts von dem Jungen auf dem Heuboden, und ich würde mich hüten, ihr von ihm zu erzählen – jetzt, wo die Gefahr aus dem Weg geräumt war, musste ich nicht noch unnötig die Pferde scheu machen.
    »Oh, das wird nicht passieren, Liebes«, hatte sie geantwortet, wie üblich so sicher, als hätte sie ein Gesetz über die eigene Unfehlbarkeit erlassen. »Ein Mensch muss, um zu vergessen, nur einmal davon trinken, eine Fee, um zu erwachen, aber dreimal. Es wäre bei dir schon längst geschehen und ist es nicht. Du brauchst keine Angst zu haben.«
    Ich weiß nicht, ob das Mädchen Angst gehabt hatte. Vermutlich. Es war ein Wunder, dass mein Schädel keine Risse bekommen hatte, so wie es sich den Kopf zermartert hatte über so vieles, das es nichts anging, und um das es sich keine Sorgen hätte zu machen brauchen. Dass es am Ende auf mich gehört hatte und nicht auf sein hübsches kleines Gewissen … Es würde mir eines Tages noch dankbar sein. Wenn es mich denn hören konnte.
    »Gerne«, sagte der Junge, und ich hörte, wie ihm langsam die Zunge lahm wurde. Mit etwas Glück würde der Rest des Weines ihn einschlafen lassen, und wenn ich ihn dann hier zurückließ, sollte sich das Problem von selbst erledigen. Er erwachte am nächsten Tag mit einem Brummschädel, und selbst wenn er dann begriff, dass er sich nur noch an die Hälfte erinnern konnte oder noch weniger, würde ihn das nicht weiter verwundern. Ich konnte dem Gärtner den Hinweis geben, dass sich ein Landstreicher im Park herumtrieb. Aber auch das sollte kaum nötig sein. Ich respektierte den Wunsch des Mädchens, den Jungen zu schonen. Er stellte keine Gefahr mehr dar. Sollte er seines Weges ziehen, sich eine nette Braut suchen und tun, was alle Menschen taten – er würde glücklicher sein als mit dem Leben, aus dem ich ihn befreit hatte. Am Ende nutzte es uns beiden. Niemand hatte ihn je gefragt, ob er ein Feenjäger sein wollte. Eines Tages würde er mir noch danken.
    Zum Schein schenkte ich auch mir noch einen Schluck Wein ein. Er konnte keinen Schaden mehr anrichten, und der Junge sollte ruhig denken, dass ich noch immer seine kleine Freundin war. Aber die Vorstellung, mich an seinen verschwitzten Körper zu schmiegen … Es musste Grenzen geben. Ich stand auf und setzte mich ans andere Ende des Tischtuches, das wohl festlich oder würdevoll aussehen sollte und doch nicht darüber hinwegtäuschte, dass es im Dreck lag.
    Er hielt mein Verhalten für Zurückweisung, und er hatte recht. »Florence …«, sagte er, »geht es dir gut?«
    »Ich brauche nur etwas frische Luft«, sagte ich – das war nicht einmal gelogen. »Mir ist ein wenig warm.« Ich hob mein Weinglas, damit er seines leerte und ich ihm nachschenken konnte. Wirklich, allzu lange sollte das nicht mehr dauern. Ich wollte nicht den ganzen Tag mit diesem ungehobelten Klotz verbringen. Aber wenn es eine Sache auf der Welt gab, die keine Mühe kostete, war das, einem willigen jungen Burschen Wein einzuflößen. Und als ich ihn am Ende zurückließ, konnte ich sicher sein, dass er ein segensreiches

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