Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
Vom Netzwerk:
Vorzüge der Bibliothek anpreisen mochte, ich hatte ihn dort noch nie in einem Buch lesen sehen, und wer konnte ihm das verdenken?
    Die Bibliothek von Hollyhock versammelte Menschengeschichten, Menschenweisheiten und Menschengedanken: Naturwissenschaften, Philosophie, Beschreibungen der Gestalt und Völker der Erde – sie war eine unerlässliche Quelle für eine Fee, die gerade erst die Pforte durchschritten hatte, um sich auf die Welt, in der sie nun die nächste Zeit verbringen sollte, vorzubereiten. Wer unter Menschen nicht sofort als Fee im Fleischmantel auffallen wollte, kam um diese Bildung nicht herum. Wie lange Rufus schon unter Menschen war, wusste ich nicht. Aber offensichtlich hatte er keines dieser Bücher mehr nötig.
    Er blickte auf, als ich den Raum betrat. »Gut«, sagte er nur und nickte, als er aufstand und die Zeitung zusammenfaltete. Ich dachte, er wollte den Raum verlassen, und trat einen Schritt beiseite, um die Tür freizugeben, doch stattdessen ging Rufus in einem Kreis um mich herum, als müsse er mich von allen Seiten begutachten. Er sagte nichts dazu, und als er seine Runde gedreht hatte, ging er und ließ mich zurück. Dass er nicht mit mir sprach, war mir ganz recht – er sollte erst mit Violet klären, in welchem hierarchischen Verhältnis wir zueinander standen, ehe er mich behandelte wie ein kleines Mädchen oder eine Dienerin und sich dann herausstellte, dass wir am Ende auf einer Stufe standen.
    Ich nahm in seinem Sessel Platz, doch ich war zu aufgewühlt, um etwas zu lesen. Alles, was ich brauchte, war ein Moment der Ruhe, um wieder zu mir selbst zu finden. Ich schloss die Augen, nicht, um zu schlafen, aber um durch meine wiedergefundenen Erinnerungen zu spazieren wie durch einen ungepflegten Park. So viele unzusammenhängende Bilder, die ich erkunden und sortieren musste, um wieder einen Sinn hineinzubringen. Bruchstücke eines Lebens im Feenreich, lose aneinandergereiht wie verblichene alte Photographien; bewegte bunte Bilder eines Lebens unter Menschen, als ob ich auf dieser Seite der Welt mehr zu suchen hatte als dort, wo ich herkam. Ich verstand, warum Violet auf solche wie mich hinunterblickte, aber ich hoffte, dass es ein Ende haben würde, wenn meine Erinnerungen erst einmal wieder da waren, wo sie hingehörten. Wenn ich erst einmal diejenigen aussortiert hatte, die nicht zu mir gehörten, sondern zu dem Mädchen …
    Vielleicht schlief ich doch ein, denn ich schreckte hoch, als die Tür aufging und eines der Dienstmädchen hereinkam. »Die Herrschaften wünschen Sie zu sehen, Miss«, sagte es. »Ich werde Sie in den Salon führen.«
    »Danke«, sagte ich und erhob mich. Wenigstens die Dienerschaft wusste jetzt, wie sie mich zu behandeln hatten. Ich hatte schon befürchtet, sie würden sich an die Anfänge des Mädchens in Hollyhock erinnern, als es unten mit dem Personal hatte essen müssen, und mich gefragt, ob Violet das mit der Absicht so arrangiert hatte, um mich auf alle Zeit unmöglich zu machen, aber da schien ich mich geirrt zu haben. Diese Leute kannten einfach den Unterschied zwischen einem armen kleinen Wechselbalg und einer ausgewachsenen Fee – vielleicht deswegen, weil ich selbst diesen Unterschied kannte.
    Rufus und Violet erwarteten mich, und ich konnte ihnen gelassen entgegentreten; es gab nichts mehr, was ich fürchten musste. »Nimm Platz«, sagte Violet, aber ich wartete, bis mir das Hausmädchen einen Stuhl zurechtgerückt hatte. Es waren nur Kleinigkeiten, und es hätte mir nicht viel ausgemacht, mich selbst zu setzen, aber es war einfach wichtig, die Unterschiede zwischen dem Mädchen von früher und mir deutlich zu machen.
    Violet nickte dem Zimmermädchen zu. »Du kannst uns nun den Tee bringen«, sagte sie, und als das Mädchen aus dem Zimmer war, tauschte sie einen Blick mit Rufus aus und wandte sich dann mir zu. »Rufus stimmt mir zu, was das zukünftige Vorgehen angeht«, sagte sie und lächelte auf eine Weise, die mir verriet, dass Rufus dabei nichts zu sagen gehabt hatte. »Nun, da du erwacht bist, werden wir dich offiziell in die Familie Molyneux aufnehmen. Du brauchst eine angemessene menschliche Identität, und wir denken, dass es unseren Absichten entgegengesetzt wäre, wenn die Welt dich als ein mittelloses Findelkind kennenlernt. Der Name, unter dem du von nun an bekannt sein sollst, ist Rose Molyneux.«
    Ich lächelte und bemühte mich, meine Erleichterung zu unterdrücken. Den Namen Florence hatte ich noch nie gemocht. »Rose«,

Weitere Kostenlose Bücher