Das Puppenzimmer - Roman
wählte, und dass sie in meinen Ohren wie eine Beleidigung klangen, lag daran, dass sie genau so gemeint waren. Aber ich hatte keine Lust, mich beleidigen zu lassen. Ich wollte endlich einen Platz im Leben haben und eine Identität – alles, was ich jetzt hatte, waren ein falscher Name und das Gefühl, noch mehr in der Luft zu hängen, als wenn ich an einem Trapez baumelte.
Ich fühlte mein Medaillon kalt auf meiner Brust brennen, und ich trug es dort seit Jahren, ohne jemals groß daran denken zu müssen. Kaum einer wusste, dass ich es überhaupt besaß, und darüber war ich froh – ich wollte nicht, dass neugierige Finger versuchten, es mit dem Federmesser aufzubrechen, und auch nicht selbst gedrängt werden, es wenigstens zu versuchen …
Ich widerstand dem Drang, es anzufassen, und verschränkte nur stumm die Hände ineinander, sprachlos vor Zorn.
»Du wirst das Abendessen mit dem Personal einnehmen«, sagte Violet, als ob Rufus’ letzte Worte nie gefallen wären. »Frühstücken wirst du mit meinem Bruder und mir, jeden Morgen um neun Uhr. Den Rest des Tages kannst du dir einteilen, wie du möchtest, solange du deiner Aufgabe nachkommst.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Zerbrich dir nicht den Kopf, was andere über dich denken. Das hast du nicht nötig.«
Ich nickte und versuchte, darin ein Kompliment zu sehen. Zumindest Violet bemühte sich, nett zu sein, wo Rufus absichtlich das genaue Gegenteil tat. Deswegen mochte ich sie nicht mehr oder weniger als ihn: Beides kam mit zu viel Kalkül daher. »Dann werde ich jetzt auf mein Zimmer gehen und ein wenig ausruhen, wenn das in Ordnung ist«, sagte ich. »Und ich sehe Sie dann morgen zum Frühstück … Wo genau gibt es das?«
»Dort, wo wir vorhin den Tee hatten«, antwortete Violet. »Es ist das Morgenzimmer. Dies hier ist das Puppenzimmer, aber behalte diesen Namen für dich. Du findest den Weg.« Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung. »Und denk an den Schlüssel.«
Wortlos zog ihn Rufus aus dem Schloss und reichte ihn mir.
»Du darfst dich entfernen«, sagte Violet. Dieses Mal erkannte ich die Falle sofort.
»Ich muss noch absperren, und ich will Sie nicht einschließen.«
Rufus blickte an mir hinunter. »Es ist nicht der einzige Schlüssel.« Und noch etwas kälter: »Natürlich nicht.«
Ich sah zu, dass ich fortkam. Für den Moment hatte ich genug von Puppen. Und von den Molyneux’ erst recht.
Ich wollte mich nur einen Moment lang hinlegen – nicht deshalb, weil ich schon wieder müde gewesen wäre, sondern um mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich war froh, für eine Weile keinem anderen Menschen über den Weg laufen zu müssen. Wenn ich mit dem Personal zu Abend aß, musste ich mich auf viele neugierige Blicke und Fragen gefasst machen, da war es besser, mir vorher über einige Dinge klarzuwerden. Rufus und Violet mochten mir keine Antworten vorgeben, also musste ich sie mir selbst zurechtlegen. Außerdem war ich froh, aus meinem berüschten Kleid wieder hinauszukommen. Im Kleiderschrank fand ich kein Nachthemd, aber als ich die Bettdecke aufschlug, lag dort eines. Ich gruselte mich etwas vor dem Ding – es kam mir vor, als läge es dort schon länger und gehörte nicht mir, sondern einer anderen –, aber da ich nicht einmal mehr wusste, wer ich jetzt war oder sein sollte, konnte ich das vielleicht gar nicht mehr beurteilen.
Ich legte das Nachthemd zur Seite, über das Fußende des Bettes, damit es etwas frische Luft schnappen konnte. Mein altes Kleid, das ich vorher dort abgelegt hatte, war verschwunden, aber ich war nicht traurig darum, höchstens besorgt, weil jemand in meinem Zimmer gewesen war. Dann zog ich die Vorhänge zu und legte mich hin. Dass ich wirklich einschlafen sollte, damit rechnete ich nicht. Nur einen Moment dieses Bett ausprobieren, schauen, ob es besser war als das alte in St. Margaret’s – aber dann fielen mir die Augen zu, und als ich sie wieder aufschlug, war es mitten in der Nacht. Hätte ich nicht wenigstens bis zum Morgen schlafen können? Jetzt war es stockfinster, so dunkel, wie ich noch nie eine Nacht erlebt hatte, und ich war ganz allein in einem Haus, das schon bei Tag gruselig gewirkt hatte.
Wie spät war es? Ich hatte keine Ahnung. Irgendwann in der Nacht, und in jedem Fall noch zu früh, um mich auf den Weg zum Frühstück zu machen. Aber ob es jetzt elf war oder vier, das konnte ich unmöglich sagen. Durch den dünnen Vorhang fiel ein klein wenig Licht herein, zu wenig für
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