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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Ort aufgewachsen, der geradezu danach schrie, dass dort jemand umherging – all die Mädchen, die in den letzten 100 Jahren in St. Margaret’s verhungert, erfroren oder dahingesiecht waren: Natürlich hatte niemand von uns so ein schreckliches Schicksal mit ansehen müssen, aber es wurde so einiges gemunkelt, und es war schwer vorzustellen, dass es hätte anders sein sollen …
    Und doch ging niemand dort um. Noch nicht einmal die eine, von der ich es mir so sehr wünschte, war als Geist wiedergekommen. Ich mochte nicht daran denken; normalerweise reichte schon die Erinnerung, um mich den ganzen Tag lang traurig zu machen, und ich wollte nicht traurig sein. Davon wurde niemand wieder lebendig, auch nicht Alice. Meine Freundin. War ich anders als die restlichen Mädchen von St. Margaret’s, so war sie es auch, und wir nutzten jede freie Minute, um die Köpfe zusammenzustecken und über Dinge zu flüstern, die kein Mensch außer uns jemals verstanden hätte, Dinge, die nur wir sehen konnten und von denen niemand wissen durfte, denn wir wollten nicht hören, dass wir sie nur erfunden hatten.
    Solange Alice lebte, war ich niemals einsam, wir hielten uns bei den Händen, wenn wir uns aufstellen mussten, und erklärten jedem, dass wir Schwestern waren, und wo die eine hinging, würde die andere auch hingehen – aber dann starb Alice und ich nicht, und es fühlte sich an wie Verrat. Es waren nicht die Masern und nicht der Keuchhusten, keine Krankheit, die es mir ermöglicht hätte, Abschied zu nehmen: Es war der dümmste aller Unfälle, und ich war nicht einmal dabei. Hinterher hieß es, Alice wäre auf der Treppe über die Katze gestolpert und unglücklich gestürzt – als ob irgendjemand glücklich stürzen konnte! –, und ich wollte es einfach nicht glauben, aber es änderte nichts daran, dass Alice tot war. Ich hatte keine Schwester mehr. Ich hatte niemanden mehr.
    Und ich wollte auch niemanden mehr haben. Keine neue Freundin, weil sie Alice nicht hätte ersetzen können, aber vor allem, weil ich nicht wollte, dass mir noch einmal etwas so sehr weh tat, wie sie zu verlieren. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass ich als Findelkind besser dran war als all die Waisen, weil ich nicht verstand, was Leid bedeutete, aber nach Alice’ Tod waren wir quitt. Und so, wie die Waisenmädchen vermieden, von ihren Eltern zu reden – schon weil sie fürchten mussten, sonst von den anderen Mädchen verprügelt und mit dem Kopf in die Wasserschüssel getaucht zu werden –, verstummte ich, wenn es um Alice ging. Ich versuchte, sie zu vergessen, und mit den Jahren ging das sehr gut; ich vergaß so vieles von dem, woran ich nicht mehr erinnert werden mochte.
    Aber hätte es wirklich Geister gegeben, Alice wäre als einer zu mir zurückgekommen, dessen war ich mir sicher. Zwei, die so aneinander hingen wie wir, mussten auch über den Tod hinaus verbunden bleiben, so der Tod das erlaubte. Er tat es nicht. Es gab keine Geister. Nicht in St. Margaret’s. Und dann auch nicht in Hollyhock.
    Was Rufus auch für dunkle Geheimnisse haben mochte, und ich war mir sicher, dass sie in die Dutzende gingen, er hatte dieses Haus erst vor kurzem geerbt. Und seine Schwester, die genauso viel auf dem Kerbholz haben mochte, ebenfalls. Wer sollte mir also nachts begegnen? Die alte Miss Lavender vielleicht, die mit ihren Puppen spielte? Zugegeben, das war nicht undenkbar, aber selbst wenn, die Vorstellung machte mir keine Angst. Ich hätte sie eigentlich ganz gerne kennengelernt und gefragt, was um alles in der Welt sie sich dabei gedacht hatte, so viele Puppen zusammenzutragen, statt etwas Anständiges mit ihrem Leben anzufangen und mit ihrem Geld. Ich musste ja nur kurz hineinschleichen und mir die Lampe holen, da war nichts dabei. Und in meinem Zimmer konnte ich sie hinterher auch gut gebrauchen …
    Natürlich hatte ich den Schlüssel nicht bei mir. Dem Kleid fehlte wirklich eine Tasche, wenn es schon keine Schürze hatte. Ich musste mir etwas deswegen überlegen; es ging nicht an, dass ich keine Möglichkeit hatte, auch nur einen Schlüssel einzustecken! Also tastete ich mich wieder die Treppe hinauf, schlich über den ersten Stock und die Treppen hinauf in den Dienstbotenflur, und als ich dann in meinem Zimmer war, ging das Suchen los.
    Ich konnte mich plötzlich nicht mehr daran erinnern, wo ich den Schlüssel hingetan hatte. Ich wusste noch, dass ich ihn irgendwo versteckt hatte, damit auch ein Dienstmädchen, das sich in mein Zimmer

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