Das Puppenzimmer - Roman
warum musste der Raum versperrt sein? Warum durfte ich niemandem davon erzählen? Es war immerhin eine Sammlung, auf die man stolz sein konnte. Hatten die Molyneux’ Angst vor Dieben, oder was ging hier vor?
»Und die Namen«, sagte Violet mit dem süßesten Honigklang. »Du wirst einer jeden von ihnen einen Namen geben, dies liegt in deiner Verantwortung.«
Wenn es weiter nichts war! Ich hatte genug Romane gelesen, um die ausgefallensten und romantischsten Namen zu kennen. Für lebendige Menschen mochten sie vielleicht zu seltsam und unchristlich klingen, aber der Unterschied zwischen einer Romanheldin und einer Puppe war gar nicht so groß: Beide beschränkten sich zumeist aufs Lächeln und darauf, sich im richtigen Moment entkleiden zu lassen. Und so konnte ich mich auch ein kleines bisschen für meinen neuen Namen rächen, und für den der Scheuermagd.
»Und sollte dir etwas auffallen«, sagte Rufus, »etwas Seltsames oder Außergewöhnliches, gib uns unverzüglich Bescheid. Wir möchten nicht riskieren, dass eine der Puppen Risse bekommt und zerstört wird. Sorgfalt, Vorsicht und Aufmerksamkeit sind deine obersten Richtlinien, und Verschwiegenheit, natürlich. Hast du das verstanden?«
Ich nickte, aber die Wahrheit war, dass ich gar nichts verstand. Dass sie ihre Sammlung, oder die ihrer Tante, irgendwo verzeichnet haben wollten, leuchtete mir ein. Aber warum sie dafür bis London fahren und ausgerechnet mich einsammeln mussten, war mir völlig schleierhaft. Waisenmädchen waren nicht dafür bekannt, gute Sekretäre zu sein, oder Archivare, oder was auch immer hier gebraucht wurde. Waisenmädchen waren nur dafür bekannt, dass niemand sie vermisste. Und dieses Wissen machte mir das Nicken jetzt nicht einfacher. Aber was sollte ich sagen? Ich wusste jetzt schon, dass ich auf Fragen keine Antwort bekommen würde.
»Soll ich mich dann gleich an die Arbeit machen?«, fragte ich. Ich wollte es hinter mich bringen, eine Stunde mit den Puppen und dann nichts wie hinaus aus diesem Zimmer. Es kam mir hier drinnen kälter vor als im Rest des Hauses. Vermutlich war es auch so, schließlich wurde der Raum nicht genutzt, und in seinem Kamin hatte schon lange kein Feuer mehr gebrannt. Hatte die alte Miss Lavender vor ihrem Tod mit ihrer Dienerin die Puppen zugedeckt? Oder war das nach ihrem Tod geschehen, und wenn ja, durch wen? Ich hätte es gerne gewusst, denn ich wollte mich bei demjenigen bedanken. Die Puppen nach und nach freizulegen und den Rest vorerst unter den Tüchern zu lassen, war sicher angenehmer, als von 200 Paar Glasaugen angestarrt zu werden, kaum dass ich nur die Tür öffnete. Rückwirkend war ich froh, dass ich noch nie mein Herz an eine Puppe gehängt hatte. Das, was ich hier sehen musste, hätte diese Liebe wohl für immer zerstört.
»Eines nach dem anderen«, sagte Rufus. »Wir haben lange genug nach dir gesucht, nun lass es ruhig angehen. Du hast eine weite Reise hinter dir und in der vergangenen Nacht lediglich ein Nickerchen in der unruhigen Kutsche halten können, nun nutze die Zeit und ruhe dich aus. Lerne Hollyhock kennen, stöbere in der Bibliothek, vielleicht möchtest du auch nur schlafen. Und was uns angeht, auch wir möchten uns von dieser Reise erholen können, und von dir.«
Bis zu diesem letzten Satz hatte er eigentlich ganz nett geklungen, aber die abschließenden Worte machten diesen Eindruck wieder gänzlich zunichte. Ich konnte mich immer noch nicht entscheiden, ob ich Rufus mochte – ein netter Mensch war er jedenfalls nicht. Aber seine abweisende und schroffe Art beeindruckte mich: Er war in der Position, zu sagen, was er meinte, und er musste niemandem schmeicheln. Macht, das war es, Rufus verströmte Macht, auch wenn er nicht von Adel sein mochte und dieses Haus nur durch den Zufall geerbt hatte, dass seine Tante vereinsamt gestorben war. Ich glaubte nicht, dass sie zu ihren Lebzeiten viel Kontakt gehabt hatten oder dass Rufus und Violet besonders fürsorgliche Neffen und Nichten gewesen waren. Miss Lavender mochte keine Menschen. Vielleicht hatte sie gerade deswegen Puppen gesammelt. Ein Blick in ihre leblosen Gesichter war für sie genug Gesellschaft für das nächste halbe Jahr.
»Das heißt, ich darf jetzt überall hingehen, wo ich will?«, fragte ich und hätte vor Freude fast die Puppe fallen gelassen. Schnell setzte ich sie auf die Kommodenkante zurück. Sie musste noch ein Weilchen ohne mich auskommen. Es eilte ja nicht.
»In gewissem Rahmen«, antwortete
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