Das Puppenzimmer - Roman
Violet. »Wir möchten nicht, dass du das Gelände von Hollyhock verlässt, nicht jetzt und nicht zu einer späteren Gelegenheit. Es ist nicht nur ein weiter Weg bis ins Dorf, dieses hat auch nichts zu bieten, das dich interessieren könnte, und die Bewohner sind niemand, mit dem du oder wir Umgang zu pflegen brauchen.« Das war eine sehr freundliche Art, zu sagen: » Du bist jetzt unsere Gefangene, und wenn du jemals Hollyhock verlässt, dann mit den Füßen voran. « »Solltest du versuchen zu verschwinden, aus welchem Grund auch immer, werden wir dich wiederfinden. Wir möchten nicht, dass dir etwas zustößt.«
Auch das klang mehr wie eine Drohung, aber in St. Margaret’s hatte ich mich auch nicht frei bewegen dürfen, und der erlaubte Radius war hier immerhin viel größer. Sie konnte mir keine Angst einjagen. Wenn ich mich entschied verlorenzugehen, würde ich weg sein, spurlos, egal was Violet jetzt sagen mochte. Es musste in meinem Blut liegen. Wer verschwinden wollte, der tat das auch, und nichts blieb zurück als ein Kind auf einer Türschwelle und ein Medaillon, das sich nicht öffnen ließ.
»Das ist in Ordnung«, sagte ich. »Bis ich alles an diesem Haus und dem Garten erkundet habe, bin ich ohnehin alt und grau.« Ich konnte noch nicht einmal sagen, was mich gerade mehr interessierte: die Bibliothek oder der Garten. Solange das Wetter gut war, vermutlich das Labyrinth, das musste man ausnutzen. In jedem Fall war es nicht dieses Zimmer, und erst recht nicht die Puppen darin. Hätte man mir das Betreten verboten, hätte das natürlich anders ausgesehen, aber da es nun stattdessen Pflicht war, konnte ich es nicht erwarten, wieder hinauszukommen. Und schon jetzt wünschte ich mir, darüber reden zu können. Ich hätte gerne gewusst, was Lucy dazu sagen würde. Sie fühlte sich in diesem Moment wie meine einzige Freundin hier im Haus an.
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Rufus, und ich musste unwillkürlich schlucken, weil ich nicht sicher war, ob er das auf das Erkunden des Hauses bezogen hatte – oder aufs Altwerden. »Wenn du noch eine Frage hast, stelle sie jetzt. Es gibt noch andere Dinge, die wir zu erledigen haben, und wir können dir nicht den ganzen Tag widmen.«
Ich war ihm dankbar, dass er schon wieder das Thema gewechselt hatte, auch wenn ich nicht damit rechnete, Antworten auf die Fragen zu bekommen, die mir unter den Nägeln brannten. Aber eine Sache mussten sie mir sagen. »Was bin ich?«, fragte ich.
Beide sahen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als ob ich ihre Zeit mit Unsinn verschwendete. »Du bist Florence«, sagte Violet. »Wer solltest du sonst sein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine, was bin ich in diesem Haus? Ich weiß ja jetzt, wozu ich hier bin, aber keiner von dem Personal darf davon wissen, wenn ich das richtig verstanden habe. Wenn mich jetzt jemand von denen fragt, was sage ich dann?«
»Das Personal hat dich nichts zu fragen«, antwortete Rufus. »Es kennt seinen Platz.«
Aber ich kannte meinen nicht. »Die Mädchen sind neugierig«, erwiderte ich. »Vielleicht werden sie mich nicht direkt fragen, aber sie werden mir nachschleichen, und wenn sie mich dann hier verschwinden sehen, wissen sie dann nicht schon zu viel?« Auf welcher Seite stand ich denn? Ich fühlte mich wie eine Petze. Doch wenn ich Lucy das nächste Mal traf, würde sie mindestens so viel fragen wie bei unserer ersten Begegnung, und dann war ich endgültig in der Verlegenheit, sie anlügen zu müssen. Besser, ich wusste schon im Vorfeld, welche Antworten den Herrschaften genehm waren und welche nicht.
»Es ist löblich, dass du dir darüber Gedanken machst«, sagte Rufus kalt. »Aber Dinge, das Personal betreffend, besprich mit meiner Schwester. Ich habe wirklich keine Zeit, mich um derartige Nichtigkeiten zu kümmern. Und überhaupt wundert es mich, dass du dir solche Fragen stellst. Ich denke, du bist ein Findelkind unbekannter Herkunft, daher solltest du daran gewöhnt sein, nicht zu wissen, wer oder was du bist.«
Ich erbleichte unter seinen Worten. Nicht einmal, weil er meinen Hintergrund kannte – was das anging, wunderte mich gar nichts mehr, und ein beachtlicher Anteil vermeintlicher Waisenkinder war auf irgendeiner Türschwelle ausgesetzt oder, mit noch etwas mehr Glück, rechtzeitig aus dem Brunnen gezogen worden. Aber dieses Berechnende, mit dem er mir meine Vergangenheit vorhielt, trieb mir einen Schauder über den Rücken. Rufus war einer, der seine Worte mit Bedacht
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