Das Puppenzimmer - Roman
und warten, etwas anderes blieb mir nicht übrig, und mich ärgern, dass ich mich hatte festsetzen lassen.
Das Erste, was ich brauchte, war ein Buch. Ein großes Buch. Nicht, weil ich ein kleines nicht hätte lesen mögen, aber weil ich mich damit so hinsetzen konnte, dass es den direkten Blick auf das verschmutzte Kleid verdeckte. Das größte, das ich fand, war ein Atlas, so riesig, dass er noch nicht einmal ins Regal passte. Er ruhte auf seinem eigenen Ständer, und als ich ihn hochhob, war er unglaublich schwer, doch dann machte ich es mir mit ihm im Sessel gemütlich, schlug eine Seite auf und begab mich auf Weltreise. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ich die fremden Namen aussprechen sollte oder wie die Menschen am anderen Ende der Erde lebten, und doch verlor ich mich ganz in diesen fremden Welten, ungestört und von Stille umgeben, dass ich völlig die Zeit vergaß. Ab und zu blätterte ich um, reiste in ein anderes Land und versuchte im Geiste, die weißen Flecken auf der Karte mit meiner Vorstellungskraft zu füllen. Der Atlas war alt, und ich wusste nicht, was in der Zwischenzeit längst entdeckt worden war, aber es war mir auch egal. Für mich boten diese unbekannten Länder die größten Abenteuer von allen, und ich starrte sie länger an als alles, was bis hin zum letzten Bach kartographiert war. So versunken war ich, dass ich nicht einmal hörte, wie die Tür wieder aufgeschlossen wurde. Erst als Violets Stimme in meine Ohren tropfte wie süßer Honig, blickte ich auf.
»Ich sehe, du bist schon ganz zu Hause?«
Ich blinzelte und nickte. »Ja, vielen Dank«, antwortete ich mechanisch, so wie ein Leierkasten nicht nachdenken musste, wenn jemand an seiner Kurbel drehte. »Das ist wirklich eine schöne Bibliothek.« Insgeheim fragte ich mich, warum es ausgerechnet Violet war, die mich holen kam, und nicht Rufus – nach meiner Vorstellung war die Bibliothek sein Zimmer, auch wenn ich damit in Wirklichkeit vermutlich falschlag: Wenn Rufus Hollyhock erst vor so kurzer Zeit geerbt hatte, konnte er unmöglich selbst all diese Bücher zusammengetragen haben, sie mussten von Miss Lavender stammen oder, was noch wahrscheinlicher war, von einem ihrer Vorfahren, denn wer so viel Geld und Kraft aufwandte, um Puppen zu sammeln, konnte unmöglich noch einmal so viel Energie in seine Bücher stecken. Und selbst wenn Miss Lavender wirklich, wirklich alt geworden war, diese Bücher mussten noch viel älter sein.
»Das freut mich«, sagte Violet. »Aber nun möchtest du dich vielleicht ein bisschen frisch machen?«
Ich verriet ihr nicht, dass ich mich bereits im Garten erleichtert hatte, im Schatten des Labyrinths, wo es niemand sehen konnte, aber da das kein Thema für eine Lady war, meinte sie auch vermutlich nur, dass ich mir die Hände waschen sollte. »Oh ja, gerne«, sagte ich. »Können Sie mir sagen, wie viel Uhr es ist?« Der Plan war, während sie nach der Uhrzeit schaute, unauffällig zur Tür zu huschen, damit sie das Kleid nicht bemerkte – denn sie würde den Schmutz unmöglich übersehen; sie war eine Frau, die auf Kleider achtete, auch wenn sie wirklich nicht viel auf Mode zu geben schien, denn sie trug schon wieder ein pastellfarbenes Kleid mit Rüschen und Reifrock, in dem sich Königin Victoria in ihren Jugendjahren wohl gefühlt hätte.
Aber Violet musste nicht nach ihrer Taschenuhr suchen, sie deutete nur lächelnd auf eine große Uhr über der Tür, welche ich völlig übersehen hatte – und erst jetzt, wo ich sie sah, hörte ich auch ihr Ticken laut und vernehmlich. Es war halb sechs. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergangen war! Jetzt musste ich mich beeilen, es konnte nicht mehr lange bis zum Abendessen sein. Vielleicht hätte ich Mr. Trent fragen sollen, wann gegessen wurde, aber mit dem wollte ich wirklich nicht mehr Worte wechseln als unbedingt nötig.
»Oh«, sagte ich. »Vielen Dank, dass Sie mich aufgestöbert haben, ich hätte sonst noch die ganze Nacht hier gesessen.« Wie kam ich raus, ohne dass sie mein Kleid bemerkte? Sie stand direkt neben meinem Sessel … »Dürfte ich mir diesen Atlas vielleicht ausleihen?«, fragte ich und versuchte es mit einem treuherzigen Augenaufschlag, der auch bei Miss Smythe oft genug geholfen hatte, wenn ich nur noch einen halben Penny oder gar kein Geld hatte und mehr Bücher mitnehmen wollte, als ich gedurft hätte. Zum Glück hatte Miss Smythe ein Herz für Waisenmädchen. Violet hingegen …
Sie lachte. »Natürlich nicht! Wir
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