Das Puppenzimmer - Roman
lernte schnell. Ich hatte St. Margaret’s überstanden, indem ich abstumpfte gegen das ganze Elend und gegen die Zurückweisungen, wenn Eltern zur Adoption kamen, um ein anderes Kind mitzunehmen, und mich daließen, und mich in meine Zirkusträume geflüchtet. Jetzt machte ich mich stumpf gegen die Stimmen der Puppen, und wieder waren es Träume, die meinem bleichen Leben ein paar Farben verliehen, aber was für Träume das waren!
In einem gab es einen großen Baum, und in seinen Ästen war eine Tafel angerichtet, ein großer Tisch mit weißem Tischtuch, die Beine am oberen Ende verschnörkelt und mit Blattgold beschichtet, unten aber kamen sie direkt aus dem Baum herausgewachsen. Violet saß an diesem Tisch und trank Tee aus einer goldenen Tasse. Als sie diese sinken ließ, sah ich, dass sie einen Schnabel im Gesicht trug, wo Nase und Mund sein sollten, ein hübscher kleiner Singvogelschnabel, wie von einer Nachtigall. Aus ihrem Haar stachen Federn hervor, und auf ihrem Rücken trug sie ein paar Flügel, mehr die eines Falters denn eines Vogels, die Farben irgendwo zwischen Dämmerung und Mitternacht. Als ich näher heranflog, erkannte ich, dass der Baum keine Blätter trug. Stattdessen saßen unzählige Schmetterlinge in seinen Zweigen und bewegten sanft ihre Flügel, um mich willkommen zu heißen. Ich ließ mich bei Violet an der Tafel nieder – und dann war der Traum auch schon wieder vorbei.
Die anderen waren ähnlich. Es waren schöne Träume, nichts in ihnen wirkte bedrohlich oder schrecklich, und doch machten sie mir ob ihrer Fremdheit Angst. Manche Motive kamen immer wieder vor, wie die Flügel und die Schmetterlinge, manchmal auch Kokons, Spinnweben und Seide. Ich wusste genau, dass ich früher niemals von solchen Dingen geträumt hatte, oder wenn, dann ohne mich daran so bunt und lebendig zu erinnern wie jetzt.
Aber ich lernte dazu. Ich fing an, ein Tagebuch zu führen, um meine Träume aufzuschreiben, und was die Puppen anging, und Violet und Rufus. Natürlich hatte ich kein Journal, und ich konnte auch nicht sagen, dass ich eines haben wollte, wo sie mir verboten hatten, eines zu besitzen. Doch ich wusste längst, dass sich niemand für das interessierte, was ich in meine Kladde schrieb, all die Angaben zu Größe, Frisur und Haarfarbe der Puppen. Alles, wonach Violet und Rufus fragten, war nach Puppen, die sich anfühlten wie die eine, die verschwunden war, oder jene, die jetzt auf der Vitrine saß. Also nahm ich die Kladde, drehte sie um und schrieb auf den hinteren Seiten mein Tagebuch. Niemand würde es jemals merken. Schließlich lag es nicht in meinem Zimmer herum, das hieß, keines der Zimmermädchen konnte darüber stolpern; solange es im Puppenzimmer war, blieb es mein Geheimnis.
Rufus und Violet würden keinen Blick hineinwerfen. Es wurde kein Katalog gebraucht, und es würde auch niemals eine Ausstellung geben oder eine Auktion oder sonst etwas. Ich verbrachte so viel Zeit wie zuvor mit den Puppen, auch wenn ich sie nicht mehr vermaß oder auszog – stattdessen konzentrierte ich mich darauf, wie sie sich anfühlten, aus der sicheren Entfernung von einem Zoll, die ich meine Hand über ihren Köpfen schweben ließ. Wenn ich eine fand, die von mir aufgenommen werden wollte, zögerte ich kurz, konzentrierte mich darauf, ob es ein gutes Gefühl war oder ein schreckliches, und kümmerte mich dann entsprechend darum.
Diejenigen, die sich schlecht anfühlten, rührte ich nicht an, aber ich merkte mir ihre Gesichter. Irgendwann musste ich Waverly nach einem Paar grober Handschuhe fragen, wie man sie für die Gartenarbeit brauchte – selbst wenn es nur darum ging, eine Puppe zu nehmen und auf die Vitrine zu stellen, wollte ich sie doch nicht noch einmal mit der bloßen Hand anfassen müssen. Drei Stück musste ich dann doch gleich zu der anderen verbannten Puppe setzen, sie waren derart böse, dass ich Angst hatte, sie könnten die anderen um sie herum anstecken, wenn ich sie nicht ganz schnell in Quarantäne steckte. Fühlte sich eine Puppe hingegen warm und lebendig an, verriet ich es Violet und Rufus beim Abendessen, als wäre es das Normalste der Welt. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, dass die Puppen nicht waren, was sie schienen – mir blieb keine andere Wahl, wenn ich nicht den Verstand verlieren oder vor Angst sterben wollte.
So kam in mein Leben eine seltsame Routine, in der das Ungewöhnliche gewöhnlich wurde, während ich darauf wartete, endlich etwas Neues zu hören von der
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