Das Puppenzimmer - Roman
dessen Geschichten ich doch immer besonders geliebt hatte. Ein bitterer Geschmack stieg mir in den Mund; ich sollte mein Leben nicht wie einen Roman betrachten, aber wenn ich nicht die Heldin der Geschichte war, würde ich auch nicht am Ende meinen stattlichen Kerl bekommen, und sosehr ich darauf hoffen mochte, dass Alan eines Tages zurückkommen und alles gut werden würde, jetzt wusste ich, dass ich einem Gespenst nachjagte. Und wenn ich ehrlich mit mir war, vermisste ich ihn als Freund, und nur als Freund – ein gebrochenes Herz musste sich anders anfühlen …
Blanche jedenfalls strahlte so eine süße Unschuld aus, dass ihr buchstäblich jedes Herz zufliegen musste. Ich hatte sie sofort gern, und das war etwas Neues für mich – normalerweise bildete ich mir eine Meinung über andere Menschen erst dann, wenn ich ein paar Worte mit ihnen gewechselt hatte. Was, wenn Blanche ein kleines Biest war oder dumm wie Brot? Doch ich sah sie und hatte sie einfach lieb. Sie lächelte, als sie mich anblickte – nicht sehr, aber gerade so, dass sich ihre Mundwinkel kräuselten, was sie ein bisschen listig und verschmitzt aussehen ließ. Vielleicht war es das, was mir gerade so an ihr gefiel.
»Du bist das Mädchen, das den ganzen Tag lang mit Puppen spielt?«, sagte sie, und jetzt war endgültig klar, dass sie mit Rufus verwandt sein musste. Das war der gleiche ironische Klang, die gleiche Art, am Ende des Satzes mit der Stimme hochzugehen wie bei einer Frage, deren Antwort man lange schon kannte.
Ich schüttelte den Kopf, würdevoll. »Ich spiele nicht«, sagte ich und spähte von Rufus zu Violet und zurück. Durfte Blanche von den Puppen wissen, einfach so? »Ich passe nur auf sie auf.«
Blanche kicherte. »Du bist süß, Florence«, sagte sie. »Ich möchte gern einmal dabei sein, wenn du mit den Puppen nicht spielst – ich darf doch, Onkel, bitte?« Oh, dieser Augenaufschlag! Hätte man das Mädchen in ein Waisenhaus gegeben, sie wäre vom Fleck weg adoptiert worden. Manche Mädchen waren so. Sie blieben nicht mal lang genug, als dass man sie dafür hätte hassen können. Und ihr Kleid! Was immer Blanche bei ihrer Ankunft in der Nacht getragen haben mochte, jetzt war auch sie nach Violets Mode herausgeputzt. Ihr Kleid ähnelte meinem, nur war es rosa und mit noch viel mehr Rüschen und Schleifchen verziert, ein Kleid, mit dem sie sich von Rosenbüschen und Brombeeren fernhalten musste, denn es gab keinen Zoll daran, der nicht am erstbesten Dorn hängengeblieben wäre.
Ich hatte keine Wahl, ich musste selbst den Augenaufschlag bei Rufus versuchen. Nicht, damit er Blanche erlaubte, mich in das Puppenzimmer zu begleiten, sondern damit er es ihr verbot. Sosehr ich mich auch freute, die Geheimnisse von Hollyhock in Zukunft mit einer Freundin zu ergründen, mit meinen Puppen wollte ich allein sein, vor allem, wenn ich damit rechnen musste, dass Blanche jedes Detail gleich an Onkel und Tante verraten würde – auch die Sachen, die ich lieber erst einmal für mich behielt. Und dann war da ja noch mein Tagebuch … Flehentlich und stumm leidend blickte ich Rufus an. Ich wusste, mit Blanche konnte ich nicht mithalten, aber vielleicht traf ich dafür Rufus’ Nerv. Und ich hatte Glück.
»Du wirst dich von den Puppen fernhalten, Blanche«, sagte er unnachgiebig. »Ich untersage dir, sie jemals auch nur zu berühren. Glaubst du, deine kleinen Abenteuer sind nicht bis zu mir vorgedrungen? Die Geschichten von all den Dingen, die du in deiner Neugier beschädigt oder zerstört hast? Nein, die Puppen sind nicht für dich.«
Ich atmete auf, selbst als ich sah, dass Blanche offenbar nicht daran gewöhnt war, dass ihr ein Wunsch versagt wurde. Sie schob die Unterlippe vor und schmollte, wie ich es zuletzt an einem fünfjährigen Mädchen gesehen hatte, und obwohl ich gerade nicht mehr glauben konnte, dass sie wirklich so alt wie ich sein sollte, hatte ich Mitleid mit ihr.
»Ach, das ist sowieso eine ganz langweilige Sache«, sagte ich. »Aber wenn du willst, kann ich dir ein paar richtig spannende Dinge zeigen, die ich gefunden habe.«
Ich sah Rufus’ Augen schmal werden – war das, weil ich ungefragt geredet hatte, oder wollte er wissen, was ich damit meinte, und ob ich vielleicht sogar seinem eigenen Geheimnis auf der Spur war? Schnell zwinkerte ich ihm zu, kaum merkbar, so dass Blanche es nicht sehen sollte: nur ein Ablenkungsmanöver, sollte das heißen.
»Dann geh und zeige Blanche dein … Reich«, sagte er, und es
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