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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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verboten, die Küche zu betreten, und selbst wenn ich versuchte, mich hinunterzuschleichen, würde mich Mrs. Arden doch früher oder später erwischen, und dann war es noch nicht einmal ich, die mit Ärger rechnen musste, sondern die arme Lucy. Ich hatte schon Alan in Schwierigkeiten gebracht; wenn er mich jetzt hasste, war das sein gutes Recht – da durfte ich nicht auch noch Lucy das Leben schwermachen. So nahm ich mein Abendessen jetzt wieder zur Abendstunde ein, wie es sich gehörte, im Kreise von Rufus und Violet, die diese Gelegenheit nutzten, die gleiche drückende Stimmung zu verbreiten wie beim Frühstück.
    Natürlich, das Essen war viel besser als das, was das Personal bekam, aber dafür fiel es mir schwer, satt davon zu werden. Es war eine Sache, mir den Teller vollzuhauen, wenn ich zwischen hungrigen Burschen und Mädchen saß, die den ganzen Tag über zu arbeiten hatten – eine andere, mit zwei bleichen Herrschaften zu speisen, die über den Appetit von Spatzen nicht hinauskamen. Unter Rufus’ Blick wagte ich nicht, viel mehr zu essen als er oder Violet, und so nahm ich mir von den Köstlichkeiten immer nur ein paar Bissen und sah am Ende mit blutendem Herzen zu, wie die Mädchen das restliche Essen wieder davontrugen, wortlos und ohne Regung des Bedauerns in ihren leeren Gesichtern. Ich wusste jetzt, dass die Reste an die Schweine gingen, und ich wünschte mir, dass derjenige, der nun Alans Arbeiten verrichtete, genauso umsichtig war, einen Teil der guten Sachen für sich selbst abzuzweigen, damit zumindest einer das Ganze genießen konnte.
    Mein Hunger jedenfalls reichte aus, dass ich auch noch am Mittag mit den Dienstboten hätte essen können. Selbst im Waisenhaus war ich nicht so häufig mit knurrendem Magen zu Bett gegangen wie hier. Und dass es dafür zum Essen den guten Wein gab, war kein Trost – im Gegenteil: Das hieß, ich endete nicht nur hungrig, sondern auch durstig, denn mit dem Wein hielt ich mich jetzt gänzlich zurück. Violet trank von ihrem Glas immer nur einen Schluck und ließ den Rest zurückgehen, und auch Rufus trank nie mehr als ein Glas. Ich konnte und wollte mir auch keinen von beiden betrunken vorstellen, es sah ihnen einfach nicht ähnlich.
    Das einzig Gute an der neuen Essensregelung war, dass ich so einen weiteren Raum in Hollyhock kennenlernte. Das Abendessen wurde im Speisesaal eingenommen, einem riesigen Raum mit einer langen Tafel, die nicht dafür gedacht war, dass nur zwei oder drei einsame Esser an ihr saßen. Hier mussten Gesellschaften stattfinden, Festbankette, aber stattdessen saß ich an einem einsamen Ende des Tisches und wartete insgeheim darauf, dass Rufus und Violet wie Hutmacher und Märzhase um den Tisch herumrutschten, damit zumindest auf allen Stühlen einmal gesessen wurde. Dass bei diesen Mahlzeiten nicht mehr gesprochen wurde als beim Frühstück, war nicht verwunderlich – man wurde schlichtweg erschlagen von so viel Pracht, dem ganzen Marmor, Silber, Gold, Kristall …
    So waren die Puppen meine einzige echte Gesellschaft, und ich war fast froh, wenn ich wieder ihr Lachen hörte, wie es ab und an passierte, immer zu Gelegenheiten, an denen ich nicht damit rechnete. Keinmal konnte ich sagen, von welcher Puppe es kam. Aber wenigstens lachte da überhaupt mal jemand. Ich stellte mir vor, dass am Ende gar nicht die Puppen selbst lachten, sondern ein Geist mit mir im Zimmer saß – die alte Miss Lavender, die nach ihrem Tod wieder das Kind geworden war, das sie im Herzen ihr ganzes Leben lang hatte sein wollen … Aber ich konnte nicht entscheiden, ob das jetzt ein wie auch immer beruhigenderer Gedanke war, als wenn doch die Puppen selbst gelacht hätten. Ich sah jedenfalls nie einen Geist, aber auch das hatte nichts zu heißen. Schließlich hütete ich mich davor, noch einmal das Puppenzimmer bei Nacht zu betreten.
    Als ich dann das erste Mal ein Kind weinen hörte, nahm ich es gelassener, als ich selbst von mir erwartet hätte. Es war kein schönes Geräusch, und ich war froh, dass es nur ein einzelnes kurzes Aufschluchzen war und kein langes Wimmern oder Heulen, aber ich hatte damit gerechnet, dass eines Tages so etwas passieren würde, und schlimmer als das Lachen war es auch nicht. Vielleicht hätte ich noch etwas lieber gewusst, von wem es kam, um diese arme Puppe, diesen Geist, was auch immer, trösten zu können. Es war ein trauriger Laut, der mich in meinem Innersten berührte, aber ich hatte gelernt, das nicht an mich heranzulassen. Ich

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