Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
sind!«
»Vielen Dank für Euer Kompliment, jedoch verstehe ich mich eher als Wissenschaftler«, entgegnete Orffyreus, der einen gut ausgepolsterten Mantel trug und dennoch erbärmlich fror.
Es war ein eiskalter Aprilmorgen. Die Sonne stand noch nicht hoch, und aus dem nahen Wald waren die ersten Vögel zu hören. Die kleine Gruppe war um kurz nach fünf Uhr am Schloss Weißenstein aufgebrochen und mit drei Kutschen hinaufgefahren. An den Treppenkaskaden endete der ausgebaute Weg, sodass die Kutschen zurückbleiben mussten. Der Landgraf marschierte voran. Direkt hinter ihm ging Orffyreus, dem mit einigem Abstand die Lakaien folgten, die den Proviant trugen. Die Küche hatte kalte Speisen zusammengestellt, darunter Hammelkeulen, Leberpastete und gebratenes Kaninchen. Zwei der Burschen schleppten Beutel mit Wein und Wasser.
»Habt Ihr das von Leibniz gehört?«, erkundigte sich der Landgraf.
»Die Leute reden nicht gut von ihm, und er soll noch nicht einmal ein anständiges Begräbnis erhalten haben«, antwortete Orffyreus und schaute seinem Atem hinterher, der in der Luft gefror.
»Er hat die Wissenschaften mehr geliebt als die Menschen«, bemerkte der Landgraf.
»Das stimmt nicht«, widersprach Orffyreus. »Ich hatte Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Er hat die Wissenschaft wegen der Menschen geliebt.«
Der Landgraf blieb kurz stehen und schaute Orffyreus mit Unverständnis an. »Und was hat es ihm genützt?«
»Nichts«, erwiderte Orffyreus. »Gar nichts.«
Der Landgraf schüttelte sich, als ob er einen unliebsamen Gedanken loswerden wollte, und zeigte auf die Treppe vor Orffyreus.
»Passt auf, dass Ihr nicht ausrutscht. Die Stufen sind wegen des nächtlichen Frostes etwas glitschig. Sie bestehen aus Tuff, den wir aus dem Habichtswald im nahen Drusel-Tal abbauen«, berichtete Landgraf Carl nicht ohne Stolz.
Orffyreus fluchte innerlich, dass er ausgerechnet heute das neue Paar Schuhe trug, deren Sohlen noch besonders glatt waren. Während er die ersten Stufen hochstieg, verlor er einige Male bedrohlich den Halt. »Wie viele Stufen sind es bis oben, Eure Durchlaucht?«
»Genau sechshundertdrei, keine mehr, aber auch keine weniger«, antwortete der Landgraf, während er mit federnden Schritten vorauseilte.
Orffyreus stöhnte auf, versuchte seine Unmutsäußerung jedoch sogleich durch einen vorgetäuschten Hustenanfall zu vertuschen.
»Wir haben nun mehr als fünfzehn Sommer an dieser Anlage gebaut«, erzählte der Landgraf, der an diesem Morgen bester Laune war. »Ich kann selbst kaum glauben, dass wir so dicht vor der Fertigstellung stehen. Es hat sich noch einiges geändert seit den letzten Entwürfen, die ich Euch vor einiger Zeit übersandt hatte. Damals lebtet Ihr noch in Draschwitz!«
»Erinnert mich nicht daran!«, rief Orffyreus. »Dort traf ich nur auf Banausen!«
Der Landgraf lachte. »Deswegen seid Ihr ja nach Hessen gekommen.«
Orffyreus nickte. Seit einiger Zeit lebte er nun mit seiner Familie und der Magd am Casseler Hof. Der Landgraf hatte ihm ein großes Appartement in der Oberneustadt zur Verfügung gestellt.
»Man erzählt sich, der Architekt dieser Anlage, dieser Italiener … Wie hieß er doch gleich …? Jedenfalls soll er im vergangenen Jahr aus der Stadt getürmt sein, als sei der Leibhaftige hinter ihm her?«, fragte Orffyreus, während sie weiter hinaufstiegen.
Der Landgraf blieb abrupt stehen. Orffyreus, der beim Steigen angestrengt auf die Stufen schaute, um nicht auszurutschen, lief beinahe in ihn hinein.
»Sprecht mir nicht von Guerniero, diesem Halsabschneider!«, empörte sich der Landgraf. »Ich habe ihm neunundzwanzigtausend Taler für seine Planungen bezahlt. Dreitausend Taler gewährte ich ihm jährlich, dazu vierzig Taler für seine Wohnung, sieben Dukaten für das Essen, zwei Pferde, für die der Hof sorgte, sowie freie Jagd und freien Fischfang.«
Orffyreus schaute zu dem eine Stufe über ihm stehenden Landgrafen hinauf. »Das ist ein Vermögen, Eure Durchlaucht!«
Der Landgraf nickte. »Und wie dankte er es mir? Indem er sich vor der Fertigstellung einfach aus dem Staub machte, dieser Schwanzkerl!«
»Warum –«, begann Orffyreus, wurde jedoch von dem Landgrafen sogleich unterbrochen.
»Warum wohl? Wegen einer Liebschaft! Diese Italiener! Hinter jedem Rock sind sie her! Es musste übel enden!«
Hinter Orffyreus kam Unruhe auf. Einer der Lakaien, voll bepackt mit Proviant, war wegen der plötzlichen Warterei auf den schmalen Stufen gefährlich ins Wanken
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