Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
Viertelstunde später näherte er sich mit dem verletzten Jungen auf dem Rücken dem Wachhaus am Parkeingang. »Hör zu, Bursche!«, sagte er. »Ich hätte dich liegen lassen können. Kein Wort erzählst du über das, was sich wirklich zugetragen hat. Solltest du irgendjemandem erzählen, dass ich dich niedergestreckt habe, werden ich oder meine Freunde dich finden und dir den Leib mit einem glühenden Messer aufschneiden! Hast du verstanden?«
Der Junge, der zwischendurch immer wieder das Bewusstsein verloren hatte, nickte schwach.
»Hast du verstanden?«, wiederholte er.
»Ja«, flüsterte der Knabe.
Wenige Augenblicke später rief die Wache ihnen entgegen: »Was ist passiert?«
»Der Junge hier wurde am Irrgarten überfallen«, antwortete er. »Ich habe die Räuber in die Flucht geschlagen und ihn bis hierher geschleppt.« Erschöpft ließ er den Knaben von seiner Schulter auf den staubigen Boden hinabgleiten. Keuchend fügte er hinzu: »Er ist schwer verletzt, aber er kann es schaffen!«
»Wisst Ihr, wie die Räuber aussahen?«, fragte der Wachmann, während er sich neben dem verletzten Jungen niederkniete und dessen Wunde betrachtete.
»Nein, es waren zwei. Sie waren bewaffnet, und wir haben versucht, ihnen die Messer zu entreißen. Ich fügte einem von ihnen im Nahkampf einen Stich zu, dann flohen die feigen Hunde! Einen Knaben überfallen – wie schäbig!«
Der kniende Wächter schaute zu ihm hinauf. Seine Perücke war durch das Tragen des Jungen endgültig verrutscht und gab den Blick auf sein verstümmeltes Ohr frei.
»Was ist mit Eurem Ohr passiert?«, wollte der Wachmann wissen.
Rasch rückte er die Perücke wieder zurecht. »Eine alte Verletzung. Ich habe früher schon Jagd auf Räuber gemacht. Einer der Gesetzlosen hat mir dies angetan.«
Der Wachmann schien mit der Antwort zufrieden und tätschelte die Wangen des Knaben, der wieder ohnmächtig geworden war. Er prüfte die Knoten, mit denen das Bein abgebunden war.
»Wir werden ihn sofort zum Arzt schaffen müssen«, sagte er und blickte sich um. In einiger Entfernung wartete eine Mietkutsche, die er heranwinkte. Dann wandte er sich wieder dem Retter des Jungen zu. »Vielleicht seid Ihr auf der Suche nach Arbeit. Die Stadt benötigt dringend tapfere Leute wie Euch für polizeiliche Aufgaben. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch bei meinem Vorgesetzten empfehlen. Mit dieser Rettungstat habt Ihr bewiesen, dass es Euch an Courage nicht mangelt.«
»Klingt interessant«, antwortete er.
»Habt Ihr Papiere?«, wollte der Wachmann wissen.
Er fasste an seinen Gehrock und schaute erschrocken. »Ich fürchte, die habe ich im Handgemenge verloren. Vielleicht haben die beiden Verbrecher sie mir sogar entwendet!«
»Macht nichts, wir werden Euch Ersatzpapiere besorgen«, beruhigte ihn der Wachmann.
Im selben Augenblick kam der Mietkutscher herbei. Er war ein ungewaschener Kerl, unrasiert und mit schmutziger Kleidung.
»Bringt den Jungen zum Arzt!«, befahl der Wächter dem Kutscher und hob den Knaben vorsichtig vom Boden auf.
»Wer zahlt mir das?«, entgegnete der Kutscher unwirsch.
Der Wächter schaute auf die Kutsche des Mannes.
»Habt Ihr auch alle Steuern für Eure Kalesche beglichen? Habt Ihr die notwendigen Belege dabei?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
Der Kutscher stöhnte auf. »Gebt schon her, das armselige Bürschchen, ich bringe ihn zum Doktor«, sagte er und streckte die Hände aus.
Der Junge öffnete die Augen und stöhnte leise vor sich hin.
71
Thor Ericson brauchte eine Pause. Er hatte den Nachmittag und den frühen Abend in der Restaurationswerkstatt des Mainzer Gutenberg-Museums verbracht und einige Bücher begutachtet. Es war ein kostenloser Service des Museums, nicht nur alte Bücher aufzubereiten, sondern für die Besitzer auch Wertgutachten zu erstellen. Für Letztere war er zuständig. Es war eine akribische Arbeit, da er jede Buchseite sorgfältig prüfen musste. Eine fehlende Seite oder eine handschriftliche Ergänzung eines früheren Lesers konnte zu einer erheblichen Wertminderung führen. Heute hatte die Arbeit länger als geplant gedauert.
Auf dem Weg in sein Büro nahm er eine Abkürzung durch die Ausstellungsräume. Es war bereits nach neunzehn Uhr. Um diese Zeit waren die Säle für Besucher geschlossen, die Bewegungsmelder aber noch nicht aktiviert.
Eilig durchquerte er die Exlibris-Sammlung. In früheren Jahrhunderten war es üblich gewesen, den Besitzer eines Buches mithilfe von kunstvollen
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