Das Rad der Zeit 0. Das Original: Der Ruf des Frühlings. Die Vorgeschichte (German Edition)
Grund für ihren Ärger war ihr eigener Wunsch, endlich gehen zu können. Jurine Najima hatte ihren Mann und drei Söhne an einem Morgen bei einem Brand verloren, aber ihr Jerid war um fast zwanzig Meilen am falschen Ort geboren worden. Moiraine gefiel es nicht, Erleichterung im Zusammenhang mit dem Tod eines Säuglings zu empfinden. Aber sie empfand sie. Der tote Junge war nicht der, den sie suchte.
Draußen raffte sie unter dem grauen Himmel ihren Umhang enger um sich. Jeder, der mit offenem Mantel durch die Straßen von Canluum ging, würde Blicke auf sich ziehen. Zumindest eine Ausländerin, wenn sie eindeutig eine Aes Sedai war. Außerdem, auch wenn man die Kälte nicht an sich heranließ, bedeutete das nicht, dass man sich ihrer nicht bewusst wurde. Ihr war unbegreiflich, wie diese Leute ohne spöttischen Unterton vom neuen Frühling sprechen konnten. In Gedanken strich sie den Namen Jurine Najima durch. Andere Namen in dem Notizbuch wiesen bereits richtige Striche auf. Die Mütter von fünf Jungen, die am falschen Ort oder am falschen Tag geboren waren. Die Mütter von drei Mädchen. Ihr ursprünglicher Optimismus, dass sie diejenige sein würde, die den Jungen aufspürte, war zu einer schwachen Hoffnung verblichen. Das Buch enthielt Hunderte Namen. Sicherlich würde eine von Tamras Sucherinnen ihn zuerst finden. Trotzdem wollte sie weitermachen. Es mochten Jahre vergehen, bevor es sicher für sie war, nach Tar Valon zurückzukehren. Viele Jahre.
Trotz des eiskalten Windes, der über die Dächer strich, waren die Serpentinenstraßen voller Menschen und Karren und Wagen, mit Straßenhändlern, die ihre Waren auf Bauchläden und Schubkarren anboten. Kutscher brüllten und ließen die langen Peitschen knallen, um besser voranzukommen, und sie war gezwungen, sich einen Weg durch die Masse zu suchen und musste um Wagen und hochräderige Karren herumgehen. Sie war offensichtlich nicht die einzige Ausländerin, die zu Fuß durch die Straßen ging. Ein Taraboner mit buschigem Schnurrbart zwängte sich an ihr vorbei und murmelte hastig eine Entschuldigung, dann eine altaranische Frau mit olivenfarbener Haut, die sie finster ansah, danach ein Illianer mit einem Bart, der die Oberlippe frei ließ, ein sehr hübscher Bursche, und nicht zu groß. Ein dunkelhäutiger Tairener in einem gestreiften Umhang, der noch besser aussah, musterte sie von oben bis unten und schürzte die Lippen und verriet so seine lüsternen Gedanken. Er setzte sich sogar in Bewegung, als wollte er sie ansprechen, aber sie ließ den Wind ihren Umhang ergreifen, was ihn lange genug öffnete, um die Streifen auf ihrer Brust zu zeigen. Das ließ ihn schnell weitereilen. Mit seinem hübschen Gesicht und liederlichen Absichten hätte er eine Kauffrau sicherlich angesprochen, aber eine Adlige war da doch eine ganz andere Sache.
Nicht jeder kam im Schneckentempo voran. Zweimal sah sie Aes Sedai durch die Menge schlendern, und jene, die das alterslose Aussehen der Gesichter erkannten, sprangen ihnen förmlich aus dem Weg und bedeuteten hastig anderen, zur Seite zu gehen, sodass sie in Kreisen aus freiem Raum gehen konnten, die zusammen mit ihnen die Straßen entlangflossen. Moiraine kannte keine der Frauen, aber sie hielt den Kopf dennoch gesenkt und blieb auf der anderen Straßenseite, weit genug entfernt, dass sie ihre Fähigkeiten nicht wahrnehmen konnten. Vielleicht sollte auch sie einen Schleier anlegen. Eine gedrungene Frau, deren Züge hinter Spitze verborgen waren, drängte sich vorbei. Damit wäre selbst Sierin Vayu auf zehn Schritte Entfernung unerkannt geblieben. Moiraine erschauderte bei dem Gedanken, so lächerlich er auch war.
Das Gasthaus Zur Himmelspforte , wo sie ein kleines Zimmer hatte, war das größte und beste Gasthaus in Canluum. Die umliegenden Geschäfte, Juweliere und Goldschmiede, Silberschmiede und Schneiderinnen, belieferten die Lords und Ladys auf dem Hirschberg, der hinter dem Gasthaus aufragte. Sie wäre dort nicht abgestiegen, hätte sie vorher gewusst, wer dort wohnte. In der ganzen Stadt war kein Zimmer zu finden gewesen, aber ein Heuschober wäre dem vorzuziehen gewesen. Nach einem tiefen Atemzug betrat sie es schnell. Weder die plötzliche Wärme von vier großen Kaminen noch die verlockenden Essensgerüche aus der Küche lockerten ihre verkrampften Schultern.
Der Gemeinschaftsraum war groß und jeder Tisch unter den hellroten Deckenbalken besetzt. Überwiegend von schlicht gekleideten Kaufleuten, die mit leisen
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