Das Rad der Zeit 0. Das Original: Der Ruf des Frühlings. Die Vorgeschichte (German Edition)
verstehen, aber sein breiter, steifer Rücken schien eine Zurechtweisung zu sein. Sie fing an darüber nachzudenken, was es diese Nacht sein würde. Und die anderen beiden würden vielleicht auch etwas davon zu spüren bekommen.
Eine Zeit lang wollte ihr nichts einfallen, das das Vorhergehende noch übertraf. Dann summte eine Wespe an ihr vorbei, und sie sah zu, wie sie zwischen den Bäumen am Straßenrand verschwand. Wespen. Natürlich. Aber sie wollte ihn nicht umbringen. »Meister Lan, seid Ihr gegen Wespenstiche allergisch?«
Er drehte sich im Sattel um, zog seinen Hengst halb herum, grunzte laut, riss die Augen auf. Einen Augenblick lang begriff sie nicht. Dann sah sie den Pfeil, der aus seiner rechten Schulter ragte.
Instinktiv umarmte sie die Quelle, Saidar füllte sie. Es war, als wäre sie wieder bei ihrer Prüfung. Ihre Gewebe blitzten fertig auf, an erster Stelle ein durchsichtiger Schild aus Luft, um weitere Pfeile von Lan abzuhalten, dann einen für sie selbst. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie sie in dieser Reihenfolge webte. Erfüllt von der Macht und mit verschärfter Sicht überprüfte sie die Bäume, zwischen denen der Pfeil hergekommen war, und entdeckte direkt am Waldrand eine Bewegung. Stränge aus Luft peitschten los und ergriffen den Mann in genau dem Augenblick, in dem er erneut die Sehne losließ. Der Pfeil schoss schräg in den Himmel, da ihm der Bogen gegen den Körper geschlagen wurde. Das alles nahm nur wenige Herzschläge in Anspruch, so schnell wie alles, das sie in der Prüfung gewebt hatte. Gerade genug Zeit, dass zwei von Ryne und Bukama abgeschossene Pfeile ihr Ziel fanden.
Mit einem enttäuschten Stöhnen ließ sie die Stränge aus Luft los, und der Mann kippte zurück. Er hatte einen Mordversuch unternommen, aber sie hatte ihn nicht für eine Hinrichtung festhalten wollen. Er wäre hingerichtet worden, nachdem sie ihn beim Magistrat abgeliefert hatten, aber es missfiel ihr, ein Teil der Urteilsvollstreckung zu sein, vor allem, bevor man es gefällt hatte. In ihren Augen war das fast so, als würde man Saidar als Waffe benutzen, oder eine Waffe herstellen, mit der Männer töten konnten. Es kam dem sehr nahe.
Sie hielt Saidar weiter fest und wandte sich Lan zu, um ihm eine Heilung anzubieten, aber obwohl der Pfeil vorn und hinten aus ihm herausragte, ließ er ihr keine Gelegenheit, um etwas zu sagen, riss sein Pferd herum und galoppierte zum Waldrand, wo er abstieg und gefolgt von Bukama und Ryne zu dem Mann ging. Erfüllt von der Macht konnte sie ihre Stimmen deutlich verstehen.
»Caniedrin?«, sagte Lan und klang schockiert.
»Du kennst diesen Burschen?«, fragte Ryne.
»Warum?«, knurrte Bukama, und es ertönte das dumpfe Dröhnen eines Stiefels, der Rippen traf.
Eine schwache Stimme antwortete stoßweise. »Gold. Warum sonst? Ihr habt noch immer … das Glück des Dunklen Königs …Euch in diesem Augenblick umzudrehen … oder der Pfeil hätte Euer Herz getroffen. Er hätte mir … sagen müssen … dass sie eine Aes Sedai ist … statt bloß zu befehlen … sie als Erste zu töten …«
Sobald Moiraine diese Worte hörte, stieß sie ihre Fersen in Pfeils Flanken und galoppierte das kurze Stück, dann sprang sie aus dem Sattel und bereitete dabei bereits das Gewebe für die Heilung vor. »Holt diese Pfeile aus ihm raus«, rief sie auf dem Weg zu ihnen und raffte beim Laufen Umhang und Röcke, um nicht zu stolpern. »Wenn die Pfeile in ihm stecken, wird die Heilung ihn nicht am Leben halten.«
»Warum ihn Heilen?«, fragte Lan und setzte sich auf einen vom Sturm entwurzelten Baum. Sein mit Erde verklebtes Wurzelwerk ragte weit über seinen Kopf hinaus. »Wollt Ihr ihn unbedingt hängen sehen?«
»Er ist schon tot«, sagte Ryne. »Könnt Ihr das auch Heilen?« Er klang interessiert, als würde er gern sehen, wie sie das zustande brachte.
Moiraines Schultern sackten nach vorn. Caniedrins Augen, die zu den Ästen über ihnen hinaufstarrten, blickten bereits leer. Seltsamerweise sah er trotz des Blutes um seinen Mund herum in seinem zerschlissenen Mantel wie ein bartloser Junge aus. Aber immerhin Mann genug, um einen Mord zu begehen. Mann genug, um an den zwei Pfeilen in seiner Brust zu sterben. Tot konnte er ihnen nicht mehr verraten, ob ihn dieser Gorthanes angeheuert hatte oder wo man diesen Mann finden konnte. Ein fast voller Köcher war an seinen Gürtel geschnallt, in unmittelbarer Nähe steckten zwei Pfeile im Erdboden. Anscheinend war er davon
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