Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
einen Stuhl an. Meister Norry wäre über eine derartige Entgleisung bei der Etikette bis zu den Zehennägeln entsetzt und Frau Harfor vermutlich beleidigt gewesen. Tatsächlich zuckte Norry leicht zusammen und warf Reene einen Seitenblick zu, und ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich. Selbst nach einer Woche gemeinsamer Berichterstattung war ihr Widerwillen, dass der andere Zeuge ihrer Vorträge wurde, deutlich zu spüren. Sie hüteten ihre Lehen eifersüchtig, und das umso mehr, seit die Haushofmeisterin auf ein Gebiet vorgedrungen war, das man einst als zu Meister Norrys Verantwortung gehörend hätte betrachten können. Natürlich war die Leitung des Königlichen Palasts immer die Aufgabe der Haushofmeisterin gewesen, und man hätte sagen können, dass ihre neuen Pflichten lediglich eine Erweiterung dessen darstellten. Natürlich hätte Halwin Norry das keineswegs so ausgedrückt. Die brennenden Scheite im Kamin setzten sich mit einem lauten Krachen, was eine Funkenflut den Schornstein hochschickte.
»Ich bin davon überzeugt, dass der zweite Bibliothekar ein … Spion ist, meine Lady«, sagte Frau Harfor schließlich und ignorierte Norry, so als wollte sie ihn verschwinden lassen. Sie hatte sich dagegen gesträubt, auch nur eine Person wissen zu lassen, dass sie auf der Jagd nach Spionen im Palast war, aber dass es der Erste Sekretär wusste, schien ihr am meisten zu schaffen zu machen. Die einzige Autorität, die er, wenn überhaupt, über sie hatte, bestand darin, die Zahlungen für den Palast auszuführen, und er stellte niemals eine Ausgabe infrage, aber selbst schon diese Kleinigkeit war mehr, als sie wünschte. »Alle drei oder vier Tage besucht Meister Harnder eine Schenke namens Ring und Pfeil , angeblich wegen des Ales, das die Wirtin, eine gewisse Mulis Fendry, macht, aber Frau Fendry hält auch Tauben, und bei jedem von Meister Harnders Besuchen schickt sie eine Taube nach Norden. Gestern statteten drei der Aes Sedai aus dem Silbernen Schwan dem Ring und Pfeil einen Besuch ab, obwohl es sich hier um ein wesentlich niedrigeres Publikum als im Schwan handelt. Sie kamen und gingen mit hochgeschlagenen Kapuzen und setzten sich über eine Stunde mit Frau Fendry unter vier Augen zusammen. Alle drei gehören zur Braunen Ajah. Ich fürchte, das ist ein Hinweis auf Meister Harnders Auftraggeber.«
»Frisöre, Köche, Diener, der Meisterkunsttischler, nicht weniger als fünf von Meister Norrys Schreibern, und jetzt einer der Bibliothekare.« Dyelin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und schaute düster drein. »Gibt es irgendjemanden, der kein Spion ist, Frau Harfor?« Norry streckte unbehaglich den Hals; er empfand die Missetaten seiner Schreiber als persönliche Beleidigung.
»Ich habe die Hoffnung, dass ich mich dem Grund dieses Fasses nähere, meine Lady«, sagte Frau Harfor selbstzufrieden. Sie konnten weder Spione noch die Hohen Herrinnen mächtiger Häuser aus der Ruhe bringen. Spione waren Ungeziefer, von dem sie den Palast so sicher befreien wollte, wie sie ihn von Flöhen und Ratten frei hielt – obwohl sie bei den Ratten in letzter Zeit Hilfe der Aes Sedai annehmen musste –, während mächtige Adlige wie Regen oder Schnee waren, ein Faktum der Natur, das man ertragen musste, bis es weg war, aber nichts, weswegen man sich aufregen musste. »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Leuten, die man kaufen kann, und nur eine bestimmte Anzahl kann es sich überhaupt leisten, sie zu kaufen oder es zumindest zu versuchen.«
Elayne bemühte sich, Meister Harnder ins Gedächtnis zurückzurufen, aber da kam nur das unbestimmte Bild eines dicklichen Manns mit beginnender Glatze, der dauernd blinzelte. Er hatte ihrer Mutter gedient und davor schon Königin Mordrellen, wenn sie sich richtig erinnerte. Niemand schien die Tatsache für bemerkenswert zu halten, dass er anscheinend auch der Braunen Ajah diente. Jeder Herrscherpalast zwischen dem Rückgrat der Welt und dem Aryth-Meer hatte ein paar Augen-und-Ohren der Weißen Burg. Jeder Herrscher mit einem Funken Verstand ging davon aus. Zweifellos würden sogar bald die Seanchaner unter dem Blick der Burg leben, wenn sie es nicht schon bereits taten. Reene hatte mehrere Spione der Roten Ajah entdeckt, sicherlich Überbleibsel von Elaidas Zeit in Caemlyn, aber dieser Bibliothekar war der Erste, der einer anderen Ajah diente. Elaida hätte es während ihrer Zeit als Beraterin der Königin nicht gefallen, dass andere Ajahs über
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