Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
Mittlerweile hatten die meisten der Aes Sedai im Herrenhaus es versucht. Braune, Grüne, Weiße und Gelbe – alle hatten versagt. Sie selbst hatte der Verlorenen noch keine Fragen gestellt. Die anderen Aes Sedai betrachteten Cadsuane als eine beinahe mythische Gestalt, eine Reputation, die sie gefördert hatte. Manchmal hatte sie sich Jahrzehnte von der Weißen Burg ferngehalten und dafür gesorgt, dass viele sie für tot hielten. Wenn sie dann wieder auftauchte, sorgte das für Aufsehen. Sie hatte falsche Drachen gejagt, weil es nötig war und weil jeder Mann, den sie gefangen nahm, ihrem Ruf bei den anderen Aes Sedai nutzte.
Ihre ganze Arbeit war auf diese letzten Tage der Welt ausgerichtet. Und das Licht sollte sie blenden, wenn sie sich das jetzt von dem jungen al’Thor ruinieren ließ!
Sie überspielte ihr Stirnrunzeln, indem sie einen Schluck Tee nahm. Langsam verlor sie die Kontrolle, einen Faden nach dem anderen. Einst hätte etwas so Dramatisches wie das Gezänk in der Weißen Burg ihre sofortige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber sie konnte nicht anfangen, an diesem Problem zu arbeiten. Die Schöpfung selbst war in Auflösung begriffen, und ihre einzige Möglichkeit, dagegen etwas zu unternehmen, bestand darin, ihre ganze Mühe auf al’Thor zu konzentrieren.
Und er widersetzte sich jedem ihrer Versuche, ihm zu helfen. Schritt für Schritt verwandelte er sich in einen Mann, dessen Inneres aus Stein war, unbeweglich und völlig unflexibel. Eine gefühllose Statue konnte nicht gegen den Dunklen König antreten.
Verdammter Junge! Und jetzt war da Semirhage, die ihr ebenfalls weiterhin trotzte. Es juckte ihr in den Fingern, jetzt da reinzugehen und die Frau anzugehen, aber schon Merise hatte die Fragen gestellt, die sie auch gestellt hätte, und war gescheitert. Wie lange würde ihre Reputation intakt bleiben, wenn sie sich als genauso unnütz erwies wie die anderen? Sarene sprach weiter.
»Ihr solltet die Aes Sedai nicht so behandeln«, sagte Sarene ganz ruhig.
»Aes Sedai?« Semirhage kicherte. »Schämt ihr euch eigentlich nicht, euch so zu bezeichnen? Als würde sich ein Welpe als Wolf ausgeben!«
»Wir mögen nicht alles wissen, das gebe ich gern zu, aber …«
»Ihr wisst gar nichts!«, erwiderte Semirhage. »Ihr seid Kinder, die mit dem Spielzeug ihrer Eltern spielen.«
Cadsuane tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Teetasse. Wieder überraschte sie die Ähnlichkeiten, die sie und Semirhage teilten – und erneut bereiteten ihr diese Übereinstimmungen tiefes Unbehagen.
Eine schlanke Dienerin kam die Treppe mit einem Teller Bohnen und gedünsteten Radieschen hinauf; Semirhages Mittagessen. War es schon so weit? Sarene verhörte die Verlorene jetzt seit drei Stunden, und sie hatte sich die ganze Zeit im Kreis gedreht. Die Dienerin kam näher, und Cadsuane bedeutete ihr, eintreten zu dürfen.
Einen Augenblick später krachte das Tablett zu Boden. Bei dem Laut sprang Cadsuane auf die Füße und umarmte Saidar , wäre um ein Haar ins Zimmer gestürzt. Semirhages Stimme ließ sie zögern.
»Das esse ich nicht«, sagte die Verlorene, die wie immer die Kontrolle hatte. »Ich habe diesen Fraß satt. Du wirst mir etwas Vernünftiges bringen.«
»Wenn wir das tun, werdet Ihr dann unsere Fragen beantworten?«, ertönte Sarenes Stimme – die offensichtlich jeden Vorteil zu nutzen bereit war.
»Vielleicht«, erwiderte Semirhage. »Wir werden sehen, ob ich dann in Stimmung bin.«
Schweigen trat ein. Cadsuane sah die anderen Frauen im Korridor an, die alle bei dem Lärm aufgesprungen waren, obwohl sie die Stimmen nicht hören konnten. Sie bedeutete ihnen, sich wieder hinzusetzen.
»Geht und holt etwas anderes«, sagte Sarene im Zimmer zu der Dienerin. »Und schickt jemanden, der das sauber macht.« Die Tür öffnete und schloss sich schnell, als die Dienerin davonhuschte.
Sarene sprach weiter. »Die nächste Frage wird entscheiden, ob Ihr diese Mahlzeit esst oder nicht.« Trotz der energischen Stimme konnte Cadsuane eine gewisse Hast in Sarenes Tonfall hören. Das plötzlich zu Boden fallende Tablett hatte sie überrascht. Sie waren alle so nervös in der Nähe der Verlorenen. Sie waren nicht ehrerbietig, aber sie behandelten Semirhage mit einem gewissen Respekt. Wie konnten sie auch nicht? Sie war eine Legende. Man trat nicht vor eine derartige Kreatur – eines der bösartigsten Wesen, das je gelebt hatte –, ohne nicht zumindest eine gewisse Ehrfurcht zu verspüren.
Eine gewisse
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