Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
sollte ihr Schande bringen. Was auch immer sie getan hatte, es hatte nicht nur die Weisen Frauen beleidigt, sondern alle in ihrer Umgebung, selbst wenn sie – wie Aviendha – gar nicht wussten, dass es geschehen war.
Das bedeutete bloß, dass sie nur noch entschlossener sein musste.
KAPITEL 4
Bei Einbruch der Nacht
G awyn verfolgte, wie die Sonne im Westen die Wolken zu Tode verbrannte und das letzte Licht verblich. Der Schimmer andauernden Zwielichts verhüllte selbst die Sonne. So wie er nachts die Sterne vor Gawyn verbarg. Heute schwebten die Wolken unnatürlich hoch am Himmel. An wolkigen Tagen lag der Gipfel des Drachenbergs oft verborgen, aber dieser dichte, graue Dunst schwebte hoch genug, dass er nur selten die zerklüftete Spitze des Berges berührte.
»Lasst sie uns angreifen«, flüsterte Jisao, der neben ihm auf dem Hügel kauerte.
Gawyn nahm den Blick vom Sonnenuntergang und konzentrierte sich wieder auf das kleine Dorf unter ihm. Dort hätte Stille herrschen müssen, abgesehen vielleicht von einem Bauern, der ein letztes Mal nach seinem Vieh sah, bevor er Feierabend machte. Dort hätte es dunkel sein müssen, abgesehen von den paar Talgkerzen, die in Fenstern brannten, während die Bewohner ihre Abendmahlzeit beendeten.
Aber es war nicht dunkel. Es war nicht still. Ein Dutzend stämmiger Gestalten trug flackernde Fackeln, die das Dorf erhellten. Im Fackellicht und dem Licht der sterbenden Sonne konnte Gawyn erkennen, dass jeder eine unscheinbare Uniform in braunen und schwarzen Tönen trug. Die Insignien aus drei Sternen konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass sie da waren.
Von seinem fernen Aussichtspunkt sah er zu, wie ein paar besorgt und ängstlich wirkende Spätankömmlinge aus ihren Häusern stolperten und sich zu den anderen auf dem dicht bevölkerten Dorfplatz gesellten. Die Dorfbewohner schienen über die bewaffnete Streitmacht nicht besonders begeistert zu sein. Frauen drückten Kinder an sich, Männer achteten darauf, den Blick gesenkt zu halten. Wir wollen keinen Ärger, besagte ihre Haltung. Zweifellos hatten sie von anderen Dörfern gehört, dass diese Invasoren gesittet vorgingen. Die Soldaten zahlten für die Waren, die sie sich nahmen, und es wurden keine jungen Männer zwangsweise rekrutiert – allerdings wies man sie auch nicht zurück. In der Tat eine sehr seltsame Invasionsstreitmacht. Aber Gawyn wusste, was die Leute denken würden. Dieses Heer wurde von Aes Sedai angeführt, und wer konnte schon sagen, was seltsam oder normal war, wenn Aes Sedai im Spiel waren?
Diese Patrouille nun wurde nicht von Schwestern begleitet, dem Licht sei Dank. Die Soldaten waren höflich, aber energisch, ließen die Dorfbewohner Aufstellung nehmen und sahen sie sich genau an. Dann betraten zwei Soldaten jedes Haus und jede Scheune und inspizierten sie. Nichts wurde mitgenommen, nichts wurde zerstört. Alles sehr ordentlich und höflich. Gawyn vermeinte förmlich zu hören, wie sich der Offizier bei dem Dorfbürgermeister entschuldigte.
»Gawyn?«, fragte Jisao. »Ich zähle kaum ein Dutzend Männer. Wenn wir Rodics Abteilung vom Norden kommen lassen, schneiden wir sie auf beiden Seiten ab und zerschmettern sie in der Mitte. Es ist schon dunkel genug, dass sie uns bestimmt nicht kommen sehen. Wir könnten sie überwältigen, ohne ins Schwitzen zu geraten.«
»Und die Dorfbewohner? Dort unten sind Kinder.«
»Das hat uns sonst auch nicht gestört.«
»Das waren andere Zeiten.« Gawyn schüttelte den Kopf. »Die letzten drei Dörfer, die sie durchsucht haben, bilden eine gerade Linie nach Dorlan. Wenn diese Gruppe verschwindet, wird sich die nächste fragen, was sie wohl beinahe entdeckt hätten. Wir werden den Blick des ganzen Heeres in diese Richtung lenken.«
»Aber …«
»Nein«, sagte er leise. »Wir müssen wissen, wann der Rückzug angebracht ist, Jisao.«
»Also sind wir den ganzen Weg umsonst gekommen.«
»Wir sind den ganzen Weg für eine Gelegenheit gekommen«, sagte Gawyn und zog sich vom Hügelkamm zurück, achtete darauf, dass sich seine Gestalt nicht vom Horizont abhob. »Und nachdem ich mir diese Gelegenheit jetzt angesehen habe, werden wir sie nicht ergreifen. Nur ein Narr schießt seinen Pfeil ab, weil er einen Vogel sieht.«
»Warum sollte man nicht schießen, wenn er direkt vor einem ist?«, fragte Jisao, als er sich zu Gawyn gesellte.
»Weil die Beute manchmal den Pfeil nicht wert ist«, sagte Gawyn. »Kommt schon.«
Unten warteten ein paar der Männer
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