Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
sie lieber Zorn gespürt, um so die Macht benutzen zu können. Natürlich fürchtete sie sich nicht, nur war sie eben auch nicht zornig genug. Angst jedoch hatte sie eindeutig nicht.
Der verdrehte Steinring fühlte sich so leicht an, als wolle er aus ihrem Hemd emporschweben. Er erinnerte sie daran, dass sie nichts anderes an Kleidung trug. Doch sobald sie daran dachte, hatte sie auch schon ein Kleid an. Das war etwas an Tel’aran’rhiod , was ihr gefiel. Oftmals war es unnötig, die Macht einzusetzen, denn sie konnte hier Dinge vollbringen, die wohl kaum jemals eine Aes Sedai mithilfe der Macht schaffen würde. Allerdings hatte sie nun nicht das Kleid aus guter, kräftiger Wolle von den Zwei Flüssen an, das sie erwartet hatte. Stattdessen reichte ihr der hohe, mit Jaerecruz-Spitze besetzte Stehkragen bis unter das Kinn, und darunter war sie in hellgelbe Seide gehüllt, die sich erregend an ihren Körper schmiegte. Wie viele Male hatte sie die typischen Taraboner Kleider wie dieses als unzüchtig bezeichnet, als sie eines trug, um in Tanchico nicht so aufzufallen? Wie es schien, hatte sie sich besser daran gewöhnt, als ihr bewusst geworden war.
Sie zog hart an ihrem Zopf, um sich für ihre gedankliche Abschweifung zu bestrafen, ließ aber das Kleid, wie es war. Es mochte nicht ganz das sein, was sie wollte, doch sie war keine oberflächliche Göre, die deshalb Theater machte. Ein Kleid ist ein Kleid. Sie würde es tragen, wenn Egwene kam und diejenige der Weisen Frauen, die sie diesmal begleitete, und falls eine von ihnen auch nur ein Wort sagte … Ich bin doch nicht so früh gekommen, um mich ausgerechnet mit Kleidern zu beschäftigen!
»Birgitte?« Schweigen war ihre Antwort, und so erhob sie die Stimme, obwohl das hier gar nicht notwendig sein sollte. In dieser Welt sollte diese bestimmte Frau ihren Namen hören, auch wenn sie sich auf der anderen Seite Tel’aran’rhiods befand. »Birgitte?«
Eine Frau trat unter den Säulen hervor. Ihre blauen Augen blickten ruhig und mit stolzem Selbstvertrauen herüber, und ihr goldenes Haar war zu einem langen, noch kunstvolleren Zopf als dem Nynaeves geflochten. Ihr kurzer, weißer Mantel und die bauschige, gelbe Seidenpumphose, die an den Knöcheln über den kurzen Stiefeletten mit ihren hohen Absätzen zugebunden war, waren eigentlich Kleidungsstücke einer Moderichtung von vor zweitausend Jahren, die ihr eben besonders gefiel. Die Pfeile in dem Köcher an ihrer Seite schienen aus Silber zu bestehen, genau wie der Bogen, den sie trug.
»Ist Gaidal auch hier?«, fragte Nynaeve. Er befand sich für gewöhnlich in Birgittes Nähe, und er machte Nynaeve nervös, da er sich standhaft weigerte, ihre Anwesenheit wahrzunehmen, und immer ein finsteres Gesicht machte, wenn Birgitte mit ihr sprach. Zuerst was es ja so etwas wie ein Schock gewesen, Gaidal Cain und Birgitte in Tel’aran’rhiod vorzufinden – lange verstorbene Helden, die in so vielen Sagen eine gemeinsame Rolle spielten. Doch, wie Birgitte selbst es ausgedrückt hatte, welcher Ort konnte für Helden, die an das Rad der Zeit gebunden waren, besser geeignet sein als ein Traum, um auf ihre Wiedergeburt zu warten? Ein Traum, der genauso alt war wie das Rad selbst. Sie waren es – Birgitte und Gaidal Cain und Rogosch Adlerauge und Artur Falkenflügel und all die anderen –, die das Horn von Valere zurückrufen würde, um in Tarmon Gai’don zu kämpfen.
Birgittes Zopf schwang herum, als sie den Kopf schüttelte. »Ich habe ihn schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Ich glaube, das Rad hat ihn wieder hinausgeworfen in die Welt der Wirklichkeit. Das geschieht ja immer wieder.« Erwartung und Sorge mischten sich in ihrer Stimme.
Falls Birgitte recht hatte, war irgendwo auf der Welt ein Knabe geboren worden, ein fröhlich krähendes Kind, das keine Ahnung hatte, wer es war, und dem doch bestimmt war, dereinst große Abenteuer und Heldentaten zu bestehen und neue Sagen entstehen zu lassen. Das Rad verwob die Helden ins Muster, wann immer sie gebraucht wurden, um dieses Muster zu verändern. Wenn sie starben, kehrten sie nach hier zurück und warteten wieder. So war es, wenn man an das Rad gebunden war. Auch neue Helden konnten sich genauso gebunden wiederfinden, Männer und Frauen, deren Mut und deren Erfolge sie weit über die gewöhnlichen Menschen hinaushob. Doch einmal gebunden, konnten sie dem Rad nie mehr entkommen.
»Wie lange müsst Ihr noch warten?«, fragte Nynaeve. »Bestimmt doch noch Jahre.«
Weitere Kostenlose Bücher