Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
Narbe, wo man ihn aufgehängt hatte, verdeckt war, schnappte sich seinen Hut und ging gebückt aus dem niedrigen Zelt.
Die Hitze erschlug ihn fast nach der relativen Kühle im schattigen Zelt. Er war nicht sicher, wie sich die Jahreszeiten hier entwickelten, doch der Sommer zog sich für seinen Geschmack schon zu lange hin. Etwas, auf das er sich in der Wüste gefreut hatte, war der Einbruch des Herbstes in den Ländern jenseits der Drachenmauer. Ein wenig Kühle. Kein Glück gehabt. Wenigstens hielt die breite Hutkrempe die schlimmste Sonnenglut von seinen Augen ab. Diese hügeligen Wälder in Cairhien waren bedauernswert: mehr Lichtungen als Bäume, und die Hälfte färbte sich bei dieser Trockenheit bereits braun. Zu Hause im Westwald würde sich noch kein brauner Fleck zeigen. Überall standen die niedrigen Aielzelte, doch auf eine gewisse Entfernung wirkten sie wie ein Haufen abgestorbener Blätter oder eine kahle Bodenerhebung, und selbst da, wo man die Seitenwände hochgezogen hatte, waren sie nur schwer zu erkennen. Die Aiel, die geschäftig umherliefen, beachteten ihn nicht weiter.
Von einer hochgelegenen Stelle auf seinem Weg durch das Lager aus erhaschte er einen Blick auf Kaderes Wagen, die im Kreis aufgestellt worden waren. Die Fahrer lagen im Schatten unter ihren Gefährten, und der Händler war nirgends zu sehen. Kadere blieb immer häufiger in seinem Wohnwagen und steckte kaum noch die Nase heraus, außer wenn Moiraine kam, um die Ladung zu inspizieren. Die Aiel, die seine Wagen in kleinen Gruppen mit Speer und Schild, Bogen und Köcher bewehrt umstanden, bemühten sich gar nicht, etwas anderes als Wachtposten darstellen zu wollen. Moiraine schien zu glauben, Kadere oder einige seiner Männer würden versuchen, sich mit den aus Rhuidean stammenden Gegenständen heimlich davonzumachen. Mat fragte sich, ob Rand überhaupt bewusst sei, dass er ihr alles gab, was sie von ihm wollte. Eine Zeit lang hatte Mat geglaubt, Rand habe endlich die Oberhand gewonnen, aber da war er sich nun nicht mehr sicher, selbst als Moiraine beinahe noch vor Rand geknickst und ihm die Pfeife herbeigetragen hätte.
Rands Zelt stand natürlich allein für sich auf einer Hügelkuppe, und diese rote Flagge hing an ihrem Mast davor. Sie flatterte in der leichten Brise, und dabei breitete sie sich manchmal so weit aus, dass man die schwarz-weiße Scheibe erkennen konnte. Das Ding jagte Mat genauso eine Gänsehaut ein wie vorher das Drachenbanner. Wenn ein Mann es vermeiden wollte, in Angelegenheiten der Aes Sedai verwickelt zu werden, so wie jeder Mann, der nicht gerade ein Idiot war, war es eigentlich das Allerletzte, ausgerechnet mit diesem Sinnbild herumzuwedeln.
Die Abhänge dieses Hügels waren leer, doch um seinen Fuß zog sich ein Ring von Zelten der Töchter des Speers. Weitere standen zwischen den Bäumen an den Hängen der unmittelbaren Umgebung. Auch das war ganz normal, genau wie das Lager der Weisen Frauen innerhalb jenes der Far Dareis Mai : Dutzende niedriger Zelte in Rufweite von Rands Hügel, zwischen denen weiß gekleidete Gai’shain geschäftig umhereilten.
Nur wenige der Weisen Frauen waren gerade zu sehen, doch das machten sie durch die kritischen Blicke wett, die sie ihm zuwarfen. Er hatte keine Ahnung, wie viele aus dieser Gruppe die Macht benützen konnten, aber wenn es um abwägende und abschätzende Blicke ging, standen sie den Aes Sedai in nichts nach. Er schritt schneller voran und bemühte sich, die Schultern nicht einzuziehen, obwohl er sich nicht gerade wohl fühlte. Er spürte ihre Blicke, als bohre sich ein Stock in seinen Rücken. Und auf dem Rückweg würde sich das ganze Spießrutenlaufen wiederholen. Nun, ein paar Worte mit Rand, und dann musste er sich das zum letzten Mal gefallen lassen.
Als er den Hut abnahm, sich duckte und in Rands Zelt trat, befand sich niemand darin außer Natael, der auf den Kissen saß, die vergoldete, drachenbeschnitzte Laute ans Knie gelehnt hatte und einen goldenen Kelch in der Hand hielt.
Mat schnitt eine Grimasse und fluchte leise. Das hätte er eigentlich wissen müssen. Falls Rand anwesend wäre, hätte er einen Kreis von Töchtern rund um das Zelt passieren müssen. Höchstwahrscheinlich befand er sich oben auf dem neuerbauten Turm. Das war eine gute Idee gewesen. So konnte man das Terrain besser kennenlernen. Das war so etwas wie die zweite Grundregel, die gleich nach der ersten kam: ›Lerne Deinen Feind kennen.‹ Die beiden Regeln nahmen sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher