Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Grund. Saidar war verführerisch. Je mehr man die Macht benützte, desto häufiger wollte man sie benützen, und desto größer war die Gefahr, eines Tages zu viel an sich zu reißen und sich damit umzubringen oder auszubrennen. Die Süße der Wahren Quelle erfüllte sie mittlerweile ganz und gar. Dafür hatte Theodrins Eimer Wasser gesorgt, obwohl die restliche Arbeit des Vormittags vergebens gewesen war. Ein simples Gewebe aus dem Element Wasser zog alle Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und ließ sie auf den Boden plätschern, wo sie sich in Form einer immer größer werdenden Pfütze ausbreitete und das ergänzte, was von Theodrins Eimerladung noch übrig war.
»Ich ergebe mich eben nicht so schnell«, sagte sie. Es sei denn, ein Kampf wäre aussichtslos. Nur ein Narr machte weiter, wenn er gar keine Chance mehr hatte. Sie konnte unter Wasser nicht atmen, sie konnte nicht fliegen, indem sie mit den Armen ruderte, und sie konnte die Macht nicht benützen, wenn sie nicht wütend war.
Theodrin wandte ihren finsteren Blick von der Pfütze ab und Nynaeve zu und stemmte die Fäuste entschlossen in die schmalen Hüften. »Das ist mir nur zu bewusst«, sagte sie in etwas zu ruhigem Tonfall. »Allen Lehrmeinungen nach solltet Ihr überhaupt nicht in der Lage sein, die Macht zu lenken. Mir hat man beigebracht, ich müsse ruhig sein, um mit der Macht zu arbeiten, innerlich kühl und ernst, offen und absolut empfangsbereit.« Das Glühen Saidars umgab sie und Stränge aus Wasser zogen die Pfütze zu einer Wasserkugel zusammen, die völlig deplatziert auf dem Boden lag. »Ihr müsst Euch der Macht ergeben, bevor Ihr sie lenken könnt. Aber bei Euch, Nynaeve … Sosehr Ihr Euch auch bemüht, Euch hinzugeben – und ich habe wohl bemerkt, dass Ihr Euch bemüht –, klammert Ihr Euch doch fest, bis Ihr wütend genug seid, um Euren Instinkt zu überwinden.« Stränge aus Luft hoben die wabbelnde Wasserkugel hoch. Einen Augenblick lang glaubte Nynaeve, die Frau wolle die Kugel nach ihr werfen, doch dann schwebte sie quer durch das Zimmer und zu dem geöffneten Fenster hinaus. Es gab ein gewaltiges Platschen, als sie auf dem Boden aufschlug, und eine Katze jaulte überrascht auf. Vielleicht galten alle Einschränkungen nicht mehr, wenn man sich auf Theodrins Stufe befand.
»Warum belasst Ihr es nicht einfach dabei?« Nynaeve bemühte sich, in heiterem Plauderton zu sprechen, aber das klang auch in ihren Ohren nicht ganz echt. Sie wollte schließlich die Macht gebrauchen können, wann immer sie es wünschte. Aber wie schon das Sprichwort sagt: ›Wenn Wünsche Flügel wären, könnten auch Schweine fliegen.‹ »Es ist überflüssig, so viel Energie zu verschwenden …«
»Hört auf damit«, sagte Theodrin, als Nynaeve versuchte, das Wassergewebe bei ihrem Haar anzuwenden, um es zu trocknen. »Lasst Saidar fahren und es auf natürliche Art trocknen. Und zieht Euch wieder an.«
Nynaeve kniff die Augen zusammen. »Ihr habt doch wohl nicht noch eine Überraschung für mich, oder?«
»Nein. Nun fangt an, Euren Geist vorzubereiten. Ihr seid eine Blütenknospe, die die Wärme der Quelle spürt und sich bereit macht, sich der Quelle zu öffnen. Saidar ist der Fluss, und Ihr seid das Ufer. Der Fluss ist mächtiger als das Ufer, doch das Ufer hält und leitet ihn. Entleert Euren Geist bis auf die Knospe. Nichts ist mehr in Euren Gedanken als diese Knospe. Ihr seid die Knospe …«
Nynaeve zog den Unterrock über den Kopf und seufzte, als Theodrins Stimme mit ihrem hypnotischen Gemurmel fortfuhr. Übungen für Novizinnen. Falls die bei ihr irgendwelche Wirkung hätten, wäre sie schon lange in der Lage, die Macht nach Belieben zu benützen. Sie sollte damit aufhören und lieber das tun, wozu sie in der Lage war, wie beispielsweise Elayne zu überzeugen, dass sie nach Caemlyn mussten. Aber andererseits wünschte sie sich, dass Theodrin recht behalten werde, und wenn sie dazu auch zehn Eimer voll Wasser benötigte. Aufgenommene liefen nicht davon und widerstrebten auch nicht. Sie hasste es noch mehr, wenn man ihr sagte, was sie nicht vollbringen konnte, als zu hören, was sie zu tun habe.
Stunden vergingen. Mittlerweile saßen sie sich an einem Tisch gegenüber, der wirkte, als entstamme er der Ruine eines Bauernhauses. In diesen Stunden hatten sie endlose Übungen absolviert, die vermutlich zur gleichen Zeit von Novizinnen vollbracht wurden. Die Blütenknospe und das Ufer. Die Sommerbrise und der plätschernde Bach. Nynaeve versuchte,
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