Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Kanal schwang. Fünfzig Schritt entfernt auf der anderen Seite befand sich eine weitere Brücke. Überall standen schmale Türmchen mit Rundbalkonen. Sie wirkten wie Spieße, die man durch runde, kunstvoll gegossene Pralinen gestoßen hatte. Jedes Gebäude war weiß. Die Türen und Fenster wiesen hohe Spitzbögen auf, manchmal sogar zwei oder drei Bögen übereinander. An den größeren Gebäuden erblickten sie lange Balkone mit weiß angestrichenen schmiedeeisernen Gittern und kunstvoll durchbrochenen Eisenornamenten, hinter denen sich die Bewohner leicht verbergen konnten. Von dort aus musste man einen grandiosen Ausblick auf die Straßen und Kanäle haben. Auch weiße Kuppeln waren zu sehen, geschmückt mit roten oder goldenen Friesen, die oben genauso scharfe Spitzen hatten wie die Türme.
Not. Verschiebung.
Es konnte genauso gut wiederum eine andere Stadt sein. Die Straße war eng und das Pflaster uneben. Zu beiden Seiten standen fünf- oder sechsstöckige Gebäude, deren weißer Verputz an vielen Stellen abgebröckelt war und den Blick auf die Backsteine freigab. Hier gab es keine Balkone. Fliegen summten umher, und es war schwierig festzustellen, ob es immer noch die Morgendämmerung war, die lange Schatten auf den Boden warf.
Sie tauschten Blicke. Es schien unwahrscheinlich, dass sie hier ein Ter’angreal finden würden, aber sie waren nun zu weit gekommen, um aufzugeben. Notwendigkeit.
Verschiebung.
Nynaeve musste niesen, bevor sie die Augen öffnete, und dann noch einmal. Jedes Verschieben ihrer Füße wirbelte Staubwolken auf. Dieser Abstellraum glich absolut nicht jenem in der Burg. Truhen, Kisten und Fässer standen in dem engen Raum herum, waren wie auch immer aufeinandergetürmt, sodass dazwischen kaum Platz verblieb, und über allem lag eine dicke Staubschicht. Nynaeve musste so stark niesen, dass sie das Gefühl hatte, es zöge ihr die Schuhe aus – und der Staub war verschwunden. Jedes bisschen. Auf Elaynes Miene zeigte sich ein leichtes, selbstzufriedenes Lächeln. Nynaeve sagte nichts und stellte sich lediglich den Raum ohne Staub vor. Sie hätte daran denken sollen.
Als sie das Durcheinander überblickte, musste sie unwillkürlich seufzen. Der Raum war nicht größer als jener, in dem ihre schlafenden Körper in Salidar ruhten, aber dies alles zu durchsuchen … »Das wird Wochen dauern.«
»Wir könnten es noch einmal versuchen. Dann wissen wir wenigstens, womit wir es zu tun haben.« Bei Elayne klang das genauso zweifelnd, wie sich Nynaeve fühlte.
Aber trotzdem war der Vorschlag genauso gut wie jeder andere. Nynaeve schloss also die Augen, und erneut wurde jene Verschiebung spürbar.
Als sie sich umsah, stand sie am von der Tür entfernten Ende des schmalen Durchgangs vor einer hüfthohen hölzernen Truhe, die aussah, als habe man sie mit Vorschlaghämmern bearbeitet. Die Eisenbeschläge schienen nur noch aus Rost zu bestehen. Nynaeve konnte sich keinen unwahrscheinlicheren Aufbewahrungsort für etwas Nützliches, besonders ein Ter’angreal , vorstellen. Elayne stand neben ihr und sah die Truhe an.
Nynaeve legte eine Hand auf den Deckel – die Scharniere würden sich problemlos bewegen lassen – und hob ihn an. Sie hörte noch nicht einmal die Andeutung eines Quietschens. Drinnen lagen zwei stark verrostete Schwerter und ein braun verfärbter Brustharnisch mit einem großen Loch auf einem Durcheinander von in Lumpen gehüllten Paketen und einem Haufen von Unrat, der zum Teil von einer Kleiderpresse zum Bügeln zu stammen schienen, zum Teil geradewegs aus einigen Küchen.
Elayne tastete nach einem kleinen Kessel mit abgebrochenem Schnabel. »Vielleicht nicht Wochen, aber zumindest den Rest der Nacht.«
»Noch einmal?«, schlug Nynaeve vor. »Es kann nicht schaden.« Elayne zuckte die Achseln. Augen zu. Not.
Nynaeve streckte die Hand aus und sie berührte etwas Hartes, Rundes, das in zerschlissenen Stoff gehüllt war. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Elaynes Hand neben der ihren ruhte. Das Grinsen der jüngeren Frau war so breit, dass es ihr Gesicht in zwei Hälften zu teilen schien.
Es herauszuholen war nicht ganz einfach. Es war nicht klein, und sie mussten zerfledderte Mäntel und verbeulte Töpfe und Pakete beiseiteräumen, die in ihren Händen zerfielen und Skulpturen, geschnitzte Tierfiguren und alle Arten von Schrott umhüllten. Sobald sie den Gegenstand freigelegt hatten, mussten sie ihn gemeinsam festhalten: eine breite, abgeflachte Scheibe, die in
Weitere Kostenlose Bücher