Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
einer Frau über deren Schwiegermutter sprach – Zweitvater und Zweitmutter nannten das die Aiel –, und das war Grund genug, um zu den Waffen zu greifen, sofern die Betroffenen nicht zuerst jene Verwandten erwähnt hatten. Falls aber der Betroffene den anderen berührte, nachdem er gesprochen hatte, bedeutete das unter den Regeln von Ji’e’toh das Gleiche, als berühre man einen bewaffneten Gegner, ohne ihm etwas anzutun. Das brachte eine Menge Ji ein und rief viel Toh hervor, aber der Berührte konnte nun verlangen, zum Gai’shain gemacht zu werden und damit die Ehre des anderen zu beschneiden und selbst weniger Verpflichtungen zu haben, Ji’e’toh forderte, dass eine ehrenhaft vorgebrachte Bitte, zum Gai’shain gemacht zu werden, auch gewürdigt werden müsse. Also endete alles damit, dass ein Mann oder eine Frau zum Gai’shain gemacht wurden, nur weil sie die Schwiegereltern eines anderen erwähnt hatten. Das war nicht weniger töricht als das, was diese Leute in Cairhien trieben. Alles lief im Grunde auf eines hinaus: Er hatte Berelain die Regentschaft übergeben, also musste er sie auch unterstützen. So einfach war das. »Die Menschen aus Cairhien beleidigen Euch, weil sie Menschen aus Cairhien sind und sich so verhalten. Lasst sie doch. Wer weiß, vielleicht lernen sie eines Tages so viel, dass Ihr sie gar nicht mehr hassen müsst.«
Rhuarc knurrte beleidigt und Berelain lächelte. Zu Rands Überraschung schien sie dem Aielmann einen Moment lang die Zunge herausstrecken zu wollen, beherrschte sich dann aber. Oder war es nur seine Einbildung? Sie war nur wenige Jahre älter als er selbst, doch sie hatte Mayene bereits regiert, als er noch in den Zwei Flüssen Schafe hütete.
Rand schickte Corman und Havien zurück zu ihrer Wachtruppe und ging weiter. Rhuarc und Berelain schritten zu beiden Seiten nebenher, und die anderen folgten ihm auf den Fersen. Eine Prozession. Jetzt brauchte er nur noch Pauken und Trompeten für einen Festtagsumzug.
Das Klappern der Übungsschwerter begann erneut hinter ihm. Eine weitere Veränderung, wenn auch nicht besorgniserregend. Selbst Moiraine, die lange Zeit die Prophezeiungen des Drachen studierte, hatte nicht gewusst, ob die erneute Zerstörung der Welt ein neues Zeitalter einleiten werde, aber zumindest brachte der Drache Veränderungen mit sich, so oder so. Und zwar genauso oft durch puren Zufall wie mit Absicht.
Als sie die Tür zu dem Arbeitszimmer erreichten, das sich Rhuarc und Berelain teilten – die langen Kassetten aus dunklem, hochglänzendem Holz waren mit Sonnenaufgängen eingelegt und ließen darauf schließen, dass es einst irgendwelchen königlichen Zwecken gedient hatte –, blieb Rand stehen und wandte sich Sulin und Urien zu. Wenn er die vielen Wächter hier nicht loswürde, dann überhaupt nicht mehr. »Ich habe vor, morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang nach Caemlyn zurückzukehren. Bis dahin besucht Eure Zelte und Eure Freunde und bemüht Euch, keine Blutfehden anzufangen. Falls Ihr darauf besteht, können zwei von Euch bei mir bleiben und mich vor Mäusen beschützen. Ich glaube nicht, dass irgendetwas Größeres mich hier überfallen wird.«
Urien grinste leicht und nickte, deutete aber in Kopfhöhe des anderen auf einen der Männer aus Cairhien und murmelte: »Die Mäuse werden hier sehr groß.«
Einen Augenblick lang glaubte Rand, Sulin werde protestieren. Ihr empörter Blick hielt jedoch nur einen Moment über an, und dann nickte auch sie, wenn auch mit aufeinandergepressten Lippen. Zweifellos würde er ihre Argumente zu hören bekommen, wenn sich nur noch Töchter in Hörweite befanden.
Das Arbeitszimmer, ein großer Raum, beeindruckte ihn auch jetzt, beim zweiten Mal, dass er es zu sehen bekam, durch sehr harte Kontraste. An der hohen Decke ergaben sich aus geraden Linien und rechten Winkeln kunstvolle Gittermuster, die sich überall wiederholten, auch an den Seitenwänden und an einem breiten, mit dunkelblauem Marmor verkleideten Kamin. In der Mitte stand ein massiver Tisch, der mit Papieren und Landkarten bedeckt war und der eine Art von Grenze darstellte. Vor den beiden hohen, schmalen Fenstern auf der einen Seite des Kamins standen Tontöpfe mit kleinen Pflanzen auf Blumensäulen. Ein paar winzige rot-weiße Blüten waren daran zu sehen. Auf dieser Seite des Tisches hing ein langer Gobelin, der Schiffe auf hoher See darstellte und Männer, die prall mit Ölfisch gefüllte Netze einholten. Ölfische waren die Quelle des
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