Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
gebrannte Gesicht um sechs oder sieben Jahre älter vorstellen musste, Aviendhas Schwester hatte nie zu den Töchtern des Speers gehört. Sie war Weberin und hatte bereits mehr als die Hälfte ihres Jahres als Gai’shain hinter sich.
Egwene grüßte sie nicht, denn das würde Niella nur in Verlegenheit bringen. »Erwartet Ihr Rand bald zurück?«, fragte sie.
»Der Car’a’carn wird erscheinen, wenn er da ist«, erwiderte Niella mit demütig zu Boden gerichtetem Blick. Das kam Egwene wirklich komisch vor, denn zu Aviendhas Gesicht, auch wenn es noch etwas kindlicher wirkte, passte Demut absolut nicht. »Es ist an uns, bereit zu sein, wenn er erscheint.«
»Niella, habt Ihr eine Ahnung, warum sich Aviendha mit Amys und Bair und Melaine zurückziehen müsste?« Es hatte sicher nichts mit dem Träumen zu tun, denn da entwickelte selbst Sorilea genauso viel Talent wie Aviendha.
»Sie ist hier? Nein, ich wüsste keinen Grund.« Doch Niellas blaugrüne Augen zogen sich beim Sprechen ein wenig zusammen.
»Ihr wisst etwas«, beharrte Egwene. Sie konnte schließlich die Gehorsamsverpflichtung der Gai’shain ein wenig ausnützen. »Sagt mir, was es ist, Niella.«
»Ich weiß, dass Aviendha mich verprügeln wird, bis ich nicht mehr sitzen kann, wenn mich der Car’a’carn hier mit schmutziger Bettwäsche auf dem Arm vorfindet«, sagte Niella ängstlich. Egwene hatte keine Ahnung, ob es etwas mit Ji’e’toh zu tun habe oder nicht, doch wenn sie zusammen waren, behandelte Aviendha ihre Schwester doppelt so streng wie alle anderen Gai’shain .
Niellas Gewand raschelte über den gemusterten Teppich, als sie hastig auf die Tür zuschritt, aber Egwene bekam ihren Ärmel zu fassen. »Wenn Eure Zeit vorüber ist, werdet Ihr dann das Weiß ablegen?«
Das war eine ungehörige Frage, und die Demut verschwand augenblicklich und machte einem Stolz Platz, der jeder Tochter des Speers Ehre gemacht hätte. »Alles andere würde Ji’e’toh infrage stellen«, sagte Niella würdevoll. Mit einem Mal huschte ein Lächeln über ihre Züge. »Außerdem würde dann mein Mann nach mir suchen, und es würde ihm nicht gefallen.« Ihre Miene wandelte sich wieder zu der einer typischen Gai’shain , und sie schlug die Augen nieder. »Darf ich jetzt gehen? Aviendha ist hier, und ich möchte sie nicht treffen, wenn ich es vermeiden kann. Aber sie wird bestimmt in diese Gemächer kommen.«
Egwene ließ sie gehen. Sie hatte ohnehin kein Recht gehabt, eine solche Frage zu stellen. Wenn man über das Leben eines Gai’shain vor oder nach dem Weiß sprach, brachte das diesen in große Verlegenheit. Sie schämte sich deshalb auch ein wenig, obwohl sie selbst keineswegs den Regeln des Ji’e’toh folgte. Oder nur gerade so viel, um höflich zu sein.
Im Wohnzimmer setzte sie sich auf einen in strengen Linien geschnitzten Sessel, den sie ganz ungewohnt unbequem fand, nachdem sie so lange nur mit übergeschlagenen Beinen auf Sitzkissen am Boden gesessen hatte. So zog sie die Beine unter sich und fragte sich erneut, was Aviendha wohl mit Amys und den anderen beiden besprechen mochte. Mit ziemlicher Sicherheit würde es um Rand gehen. Um ihn drehte es sich immer bei den Weisen Frauen. Ihnen waren die von Feuchtländern stammenden Prophezeiungen des Drachen gleichgültig, aber sie kannten die Prophezeiung von Rhuidean von vorn bis hinten auswendig. Wenn er die Aiel vernichtete, und diese Weissagung sagte genau dies voraus, würde ›der Rest eines Restes‹ gerettet, und sie hatten vor, diesen Rest so groß wie möglich werden zu lassen.
Deshalb befahlen sie auch Aviendha, sich so nahe wie möglich bei ihm aufzuhalten. Zu nahe, um schicklich zu sein. Sie war sicher, wenn sie ins Schlafzimmer ginge, würde sie dort am Boden eine Bettstatt für Aviendha vorfinden. Aber die Aiel sahen so etwas ganz anders. Die Weisen Frauen wollten, dass Aviendha ihn die Sitten und Gebräuche der Aiel lehrte, um ihn jederzeit zu mahnen, dass er von Aielblut sei, wenn er auch nicht bei den Aiel aufgewachsen war. Offensichtlich waren die Weisen Frauen der Ansicht, dafür benötige sie jede Stunde des Tages, in der er wach war, und wenn sie bedachte, was ihnen bevorstand, konnte sie ihnen kaum einen Vorwurf machen. Zumindest keinen sehr großen. Trotzdem war es nicht anständig und geziemte sich nicht, wenn man eine Frau zwang, im gleichen Zimmer mit einem Mann zu schlafen.
Andererseits konnte sie Aviendha nicht bei der Lösung ihres Problems behilflich sein, vor allem
Weitere Kostenlose Bücher