Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Kampf, sich dazu zu bringen, es loszulassen. Für das, was er tun musste, wollte er keinen Schild zwischen sich und seinen Empfindungen wissen.
Eine Tochter des Speers richtete Desoras Leichnam auf und hob Desoras Schleier an. Sie streckte die Hand aus, um Rand darin zu hindern, das Stück schwarzen Algode zu berühren, zögerte dann, sah ihm ins Gesicht und setzte sich wieder zurück.
Er hob den Schleier an und grub sich Desoras Gesicht ins Gedächtnis ein. Sie sah jetzt aus, als schliefe sie. Desora, von der Musara-Sept der Reyn-Aiel. So viele Namen. Liah, von den Cosaida Chareen, und Dailin, von den Eisenberg Taardad, und Lamelle, von den Rauchwasser Miagoma, und … So viele. Manchmal ging er diese Liste Name für Name durch. Einen Namen hatte nicht er hinzugefügt. Ilyena Trierin Moerelle. Er wusste nicht, wie Lews Therin ihm diesen Namen eingeprägt hatte, aber er hätte ihn auch dann nicht ausgelöscht, wenn er diese Möglichkeit gesehen hätte.
Es war sowohl mühsam als auch eine Erleichterung, sich von Desora abzuwenden. Und es war die reine Erleichterung, festzustellen, dass der Leichnam, den er für eine zweite Tochter des Speers gehalten hatte, stattdessen ein für einen Aiel sehr kleiner Mann war. Er empfand Schmerz für die Männer, die für ihn gestorben waren, aber durch sie erinnerte er sich an ein altes Sprichwort: »Lass die Toten ruhen, und kümmere dich um die Lebenden.« Es war nicht leicht, aber er würde es schaffen, obwohl er diese Worte nicht einmal heraufbeschwören konnte, wenn eine Frau für ihn gestorben war.
Auf dem Pflaster ausgebreitete Röcke zogen seinen Blick an. Nicht nur Aiel waren gestorben.
Ein Armbrustpfeil hatte sie zwischen die Schulterblätter getroffen. Ihre Kleidung wies kaum Blut auf. Es war ein schneller und gnädiger Tod gewesen. Rand kniete sich hin und drehte die Frau so vorsichtig wie möglich um. Das andere Ende des Pfeils stak aus ihrer Brust hervor. Sie hatte ein kantiges Gesicht, eine Frau mittleren Alters, eine Spur Grau im Haar. Ihre dunklen Augen waren weit geöffnet. Sie wirkte überrascht. Er kannte ihren Namen nicht, aber er grub sich auch ihr Gesicht ins Gedächtnis ein. Sie war gestorben, weil sie sich auf derselben Straße befunden hatte wie er.
Er ergriff Nanderas Arm, und sie schüttelte seine Hand ab, weil sie nicht wollte, dass ihr Können mit dem Bogen geschmälert würde, aber sie sah ihn an. »Such die Familie dieser Frau und sorge dafür, dass sie bekommen, was immer sie brauchen. Gold …« Das genügte nicht. Sie brauchten die Frau zurück, die Mutter. Aber das konnte er ihnen nicht geben. »Kümmere dich um sie«, sagte er. »Und finde ihren Namen heraus.«
Nandera streckte eine Hand zu ihm aus, senkte sie aber dann wieder auf ihren Bogen. Als er sich erhob, beobachteten ihn die Töchter des Speers. Oh, sie beobachteten wie immer alles, aber jene verschleierten Gesichter wandten sich ihm ein wenig häufiger zu. Sulin wusste, was er empfand, auch wenn sie nichts von der Liste wusste, aber er hatte keine Ahnung, ob sie es den anderen erklärt hatte. Und wenn sie es getan hatte, wusste er nicht, wie sie darüber empfanden.
Er ging zu der Stelle zurück, an der er vom Pferd gefallen war, und hob das mit Quasten versehene Drachenszepter auf. Es war anstrengend, sich hinabzubeugen, und das Szepter von der Länge eines Speers fühlte sich schwer an. Jeade’en war nicht weit gelaufen, als sein Sattel leichter geworden war. Das Pferd war gut dressiert. Rand stieg auf den Rücken des Schecken. »Ich habe hier getan, was ich konnte«, sagte er – sollten sie doch denken, was immer sie wollten – und stieß dem Schecken die Fersen in die Seiten.
Wenn er die Erinnerungen schon nicht hinter sich lassen konnte, wollte er wenigstens die Aiel hinter sich lassen. Zumindest für einige Zeit. Er hatte Jeade’en bereits einem Stallburschen übergeben und den Palast betreten, bevor Nandera und Caldin ihn mit ungefähr zwei Dritteln mehr Töchtern des Speers und Bergtänzern, als sie zuvor bei sich gehabt hatten, einholten. Einige waren zurückgelassen worden, um sich um die Toten zu kümmern. Caldin sah sich verärgert um. Als Rand den Zorn in Nanderas Augen sah, dachte er, dass er froh sein sollte, dass sie nicht verschleiert war.
Bevor sie etwas sagen konnte, näherte sich ihm Frau Harfor und verfiel in einen tiefen Hofknicks. »Mein Lord Drache«, sagte sie mit tiefer, volltönender Stimme, »die Herrin der Wogen vom Clan Catelar, von den
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