Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
sollte.« Bashere trat langsam zurück, und Rand senkte das Siegel genauso langsam und vorsichtig. Wenn Rand vorher Taim für unerschütterlich gehalten hatte, wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Entsetzen prägte das Gesicht des Mannes. »Wisst Ihr, was das ist, Taim?«, fuhr ihn Rand an. »Ihr müsst es wissen, sonst hättet Ihr es mir nicht gebracht. Wo habt Ihr es gefunden? Habt Ihr noch eines? Wisst Ihr, wo sich ein anderes befindet?«
»Nein«, sagte Taim mit unsicherer Stimme. Er sah nicht so aus, als fürchte er sich; eher wie ein Mann, unter dessen Füßen plötzlich eine Felsklippe nachgab und der sich gerade noch auf festen Boden retten konnte. »Das ist das Einzige. Ich … ich habe alle möglichen Gerüchte gehört, seit ich den Aes Sedai entkam. Ungeheuer, die einfach aus der Luft heraus auftauchen. Eigenartige, nie gesehene Tiere. Menschen, die mit Tieren sprechen, und Tiere, die sich mit Menschen verständigen. Aes Sedai, die genau auf dieselbe Art wahnsinnig werden, wie man es von uns annimmt. Ganze Dörfer, deren Bewohner durchdrehen und sich gegenseitig umbringen. Einiges könnte durchaus stimmen. Die Hälfte dessen, was ich als Wahrheit kenne, klingt kein bisschen weniger verrückt. Ich hörte auch, dass einige der Siegel zerbrochen seien. Dieses hier könnte sogar ein Hammer zerschlagen.«
Bashere runzelte die Stirn, starrte das Siegel in Rands Händen an, und dann schnappte er vor Überraschung nach Luft. Er hatte verstanden.
»Wo habt Ihr es gefunden?«, wiederholte Rand. Falls er die letzten aufspüren könnte … Aber was dann? Lews Therin rührte sich, doch er hörte nicht auf ihn.
»Am allerletzten Ort, an dem Ihr so etwas erwarten würdet«, antwortete Taim, »und das dürfte wohl auch der erste Ort sein, an dem man eine Suche nach den anderen beginnt. Ein verfallener, kleiner Bauernhof in Saldaea. Ich habe angehalten und um Wasser gebeten, da gab der Bauer es mir. Er war alt, hatte keine Kinder oder Enkel, um es ihnen zu vererben, und er glaubte, ich sei der Wiedergeborene Drache. Er behauptete, seine Familie habe es mehr als zweitausend Jahre lang gehütet. Er behauptete auch, in den Trolloc-Kriegen seien sie Könige und Königinnen gewesen, und Adlige unter Artur Falkenflügel. Seine Geschichte könnte der Wahrheit entsprechen. Sie ist auch nicht unwahrscheinlicher, als so etwas in einer Hütte nur ein paar Tagesritte von der Grenze zur Fäule zu entdecken.«
Rand nickte und bückte sich dann, um die Lumpen aufzusammeln. Er war daran gewöhnt, dass in seiner Umgebung die unwahrscheinlichsten Dinge geschahen. Gelegentlich musste so etwas ja auch anderswo passieren. Er wickelte das Siegel schnell wieder ein und hielt es Bashere hin. »Bewacht dies sorgfältig!« Zerstört es! Er unterdrückte die Stimme mit aller Macht. »Nichts darf damit passieren.«
Bashere nahm das Bündel andächtig mit beiden Händen entgegen. Rand war nicht sicher, ob die anschließende Verbeugung ihm galt oder dem Siegel. »Zehn Stunden oder zehn Jahre lang. Es ist bei mir sicher, bis Ihr es benötigt.«
Einen Augenblick lang musterte Rand ihn. »Jeder wartet nur darauf, dass ich wahnsinnig werde. Alle fürchten sich davor, nur Ihr nicht. Gerade eben müsst Ihr doch gedacht haben, jetzt sei es endgültig so weit, aber selbst dann habt Ihr Euch nicht vor mir gefürchtet.«
Bashere zuckte die Achseln und grinste hinter seinem grau melierten Schnurrbart hervor. »Als ich zum ersten Mal in einem Sattel schlief, war Muad Cheade Generalmarschall. Der Mann war so verrückt wie ein Rammler im Frühling, wenn der Schnee schmilzt. Zweimal am Tag durchsuchte er seinen Leibdiener nach Gift, er trank nichts außer Essig und Wasser, wovon er behauptete, es mache ihn immun gegen das Gift, das ihm der Kerl verabreiche, aber er aß alles, was ihm der Mann kochte, solange ich ihn kannte. Einmal ließ er eine Gruppe Eichen fällen, weil er behauptete, sie hätten ihn angesehen. Und dann bestand er darauf, sie anständig zu begraben und hielt selbst die Grabrede. Habt Ihr eine Ahnung, wie lange es dauert, Gräber für dreiundzwanzig Eichen zu graben?«
»Warum hat denn niemand etwas unternommen? Seine Familie?«
»Diejenigen, die nicht sowieso genauso verrückt oder noch verrückter waren, hatten schon Angst, ihn auch nur schief anzuschauen. Tenobias Vater hätte ohnehin niemanden an Cheade herangelassen. Er war ja vielleicht verrückt, aber er war der beste Heerführer, den ich je erlebt habe. Er hat niemals eine
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