Das Rad der Zeit 8. Das Original: Der Weg der Klingen (German Edition)
nordwärts und weiter, bis der Wind den weiten, von Schiffen bevölkerten Hafen Ebou Dars erreichte, in dem wie in vielen anderen Häfen Hunderte von Meervolk-Schiffen lagen und auf Nachricht des Coramoor, des Auserwählten, warteten.
Der Wind heulte über den Hafen, erschütterte kleine und große Schiffe, fegte über die Stadt selbst, die unter der gleißenden Sonne weiß leuchtete, über Erker und Mauern und Kuppeln hinweg und durch die von den berühmten Gewerben des Südens geschäftigen Straßen und Kanäle. Der Wind wirbelte rund um die schimmernden Kuppeln und die schlanken Türme des Tarasin-Palasts, trug den Geruch von Salz heran, erfasste die Flagge von Altara, zwei goldene Leoparden auf rot-blauem Feld, und die Banner des regierenden Hauses Mitsobar, das Schwert und der Anker, Grün auf Weiß. Noch nicht der Sturm, aber ein Vorbote von Stürmen.
Aviendha verspürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, als sie vor ihren Begleitern her durch die in Dutzenden freundlich heller Schattierungen gefliesten Gänge des Palasts schritt. Ein Gefühl, beobachtet zu werden, das sie zuletzt empfunden hatte, als sie noch mit dem Speer verbunden war. Einbildung, sagte sie sich. Einbildung und das Wissen, dass Feinde in der Nähe sind, denen ich nicht die Stirn bieten kann! Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte dieses Kribbeln bedeutet, dass jemand sie vielleicht zu töten beabsichtigte. Der Tod war nichts, was man fürchten musste – jedermann starb, heute oder an einem anderen Tag –, aber sie wollte nicht wie ein in der Falle gefangenes Kaninchen sterben. Sie musste ihrem Toh begegnen.
Diener hasteten dicht an den Wänden vorüber, verbeugten sich, vollführten Hofknickse und senkten die Blicke, fast als verstünden sie das Beschämende ihrer Lebensführung, obwohl gewiss nicht sie die Ursache dafür sein konnten, dass Aviendha am liebsten mit den Achseln gezuckt hätte. Sie hatte sich Mühe gegeben, Diener anzusehen, aber selbst jetzt, wo die Haut zwischen ihren Schulterblättern kribbelte, wich ihr Blick ihnen noch aus. Es musste Einbildung sein – und die Nerven. Dies war ein Tag für Einbildungen und schlechte Nerven.
Die üppigen Seidentapeten wie auch die vergoldeten Lampen und Kandelaber, welche die Gänge säumten, zogen ihren Blick an. Hauchdünnes Porzellan in Rot-, Gelb-, Grün- und Blautönen stand in Wandnischen und hohen, durchbrochenen Schränken, Seite an Seite mit Gold- und Silberschmiedearbeiten sowie Elfenbein und Kristall, eine Vielzahl von Schalen und Vasen und Schatullen und Statuetten. Nur die Wunderschönsten zogen ihren Blick wirklich an. Was auch immer Feuchtländer glaubten – Schönheit war mehr wert als Gold. Hier war so viel Schönes zu sehen. Sie hätte nichts dagegen gehabt, am Fünften dieses Ortes beteiligt zu werden.
Verärgert über sich selbst runzelte sie die Stirn. Das war kein ehrenhafter Gedanke unter einem Dach, das ihr bereitwillig Schatten und Wasser gespendet hatte. Zugegebenermaßen unzeremoniell, aber auch ohne Schuld oder Blut, Stahl oder Not. Aber immer noch besser das, als über einen kleinen Jungen nachdenken zu müssen, der irgendwo dort draußen in dieser ruchlosen Stadt allein unterwegs war. Jede Stadt war ruchlos – dessen war sie sich inzwischen sicher, nachdem sie vier Städte kennengelernt hatte –, aber Ebou Dar war die letzte Stadt, in der sie ein Kind hätte allein herumlaufen lassen. Sie konnte nicht verstehen, warum die Gedanken an Olver kamen, wenn sie sich nicht bemühte, sie zu verdrängen. Er war kein Teil des Toh , das sie Elayne und Rand al’Thor gegenüber verpflichtete. Ein Shaido-Speer hatte ihm den Vater genommen und Hunger und Not die Mutter, aber selbst wenn es ihr eigener Speer gewesen wäre, der beide genommen hätte, war der Junge noch immer ein Cairhiener, ein Baummörder. Warum sollte sie sich wegen eines Kindes dieser Abstammung quälen? Warum? Sie versuchte, sich auf das zu gestaltende Gewebe zu konzentrieren, aber obwohl sie unter Elaynes Aufsicht geübt hatte, bis sie es im Schlaf hätte gestalten können, drängte sich Olvers Gesicht mit dem breiten Mund dazwischen. Birgitte sorgte sich noch mehr um ihn als sie selbst, aber in Birgittes Brust schlug ein ohnehin eigenartig weiches Herz für kleine – und besonders garstige – Jungen.
Aviendha gab es seufzend auf, die Unterhaltung ihrer Begleiter hinter ihr weiterhin ignorieren zu wollen, obwohl deren Verärgerung deutlich hörbar war. Selbst das war besser,
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