Das Rad der Zeit 9. Das Original: In den Klauen des Winters (German Edition)
Mühsam stemmte sie sich hoch. Ihre Knie zitterten, und sie musste sich mit einer Hand auf dem Tisch abstemmen, aber mit der anderen zog sie den Dolch. Die mit eingeätzten Mustern versehene Klinge war kaum so lang wie ihre Hand, aber sie würde ausreichen. Oder hätte es zumindest, wenn sich ihre Finger, die den Griff hielten, nicht taub angefühlt hätten. Ein Kind konnte ihr die Waffe abnehmen. Nicht ohne Gegenwehr, dachte sie. Es war, als würden ihre Bewegungen von einer öligen Flüssigkeit gehemmt, aber sie war trotzdem voller Entschlossenheit. Nicht ohne Gegenwehr!
Seltsam wenig Zeit schien vergangen zu sein. Dyelin wandte sich gerade ihren Komplizen zu, als der Letzte hinter sich die Tür schloss.
»Mörder!«, kreischte Dyelin. Sie stemmte ihren Stuhl hoch und warf ihn den Männern entgegen. »Wachen! Mörder! Wachen!«
Die drei Männer versuchten, dem Stuhl auszuweichen, aber einer war zu langsam und wurde an den Beinen getroffen. Mit einem Aufschrei stürzte er gegen den Mann neben ihm und beide gingen zu Boden. Der dritte, ein schlanker, strohblonder junger Mann mit hellblauen Augen, wich ihnen aus und näherte sich mit gezücktem Messer.
Dyelin stellte sich ihm mit ihrer Klinge entgegen, hieb und stach zu, aber er bewegte sich so flink wie ein Frettchen und wich ihrem Angriff mühelos aus. Seine lange Klinge sauste durch die Luft, Dyelin stolperte mit einem Aufschrei zurück und presste eine Hand auf den Leib. Er tänzelte behände heran, stach zu, und sie schrie auf und fiel wie eine Stoffpuppe zu Boden. Er trat über sie hinweg und kam auf Elayne zu.
Für sie existierte nur noch der Mann und das Messer in seiner Hand. Er stürzte sich nicht auf sie. Die großen blauen Augen studierten sie sorgfältig, während er langsam näher kam. Natürlich. Er wusste, dass sie eine Aes Sedai war. Er musste sich fragen, ob der Trank seine Wirkung getan hatte. Sie versuchte gerade zu stehen, ihn finster anzustarren, ein paar Augenblicke mit einem Bluff zu gewinnen, aber er nickte nur und wog das Messer in der Hand. Hätte sie irgendetwas tun können, wäre es mittlerweile geschehen. Auf seinem Gesicht stand keine Freude zu lesen. Er war bloß ein Mann, der einen Auftrag zu erledigen hatte.
Plötzlich blieb er stehen, starrte erstaunt an sich herunter. Elayne starrte ebenfalls. Auf die ein Fuß Stahl, die aus seiner Brust herausragten. Blut sprudelte aus seinem Mund, als er gegen den Tisch krachte und ihn zur Seite schob.
Elayne fiel auf die Knie, erwischte gerade noch rechtzeitig die Tischkante, um zu verhindern, dass sie weiterfiel. Erstaunt starrte sie den Mann an, der auf den Teppichen verblutete. Ein Schwertgriff ragte aus seinem Rücken. Ihre bleiernen Gedanken schweiften ab. Bei all dem Blut würde man die Teppiche wohl nie wieder richtig sauber kriegen. Langsam hob sie den Blick, sah an Dyelins regloser Gestalt vorbei. Sie schien nicht zu atmen. Schaute weiter in Richtung Tür. Der offen stehenden Tür. Einer der beiden anderen Attentäter lag davor; sein nur noch zur Hälfte mit dem Körper verbundener Kopf war in einem seltsamen Winkel verdreht. Der andere kämpfte mit einem Mann, der einen roten Mantel trug; die beiden grunzten und wälzten sich am Boden, versuchten, denselben Dolch zu erreichen. Der Möchtegern-Mörder bemühte sich, mit der freien Hand die Faust des Gegners zu lösen, die sich um seinen Hals gekrallt hatte. Sein Gegner. Ein Mann mit einem Gesicht wie eine Axt. Der den mit einem weißen Kragen versehenen Mantel eines Gardisten trug.
Beeil dich, Birgitte, dachte sie benommen. Bitte beeil dich.
Dann hüllte Dunkelheit sie ein.
KAPITEL 10
Ein Plan hat Erfolg
E layne schlug die Augen auf. Es war dunkel. Sie starrte auf verschwommene Schatten, die vor einer nebelhaften, bleichen Helligkeit tanzten. Ihr Gesicht war kalt, ihr Körper heiß und verschwitzt; etwas hielt ihre Arme und Beine fest. Einen Augenblick lang stieg Panik in ihr auf. Dann spürte sie Aviendhas Anwesenheit in dem Raum, eine einfache, tröstende Anwesenheit, und Birgitte, die wie eine Faust aus ruhigem, kontrolliertem Zorn war. Sie beruhigten sie, einfach, indem sie da waren. Sie befand sich in ihrem eigenen Schlafzimmer, lag unter den Decken in ihrem Bett und starrte auf den dicht gespannten Leinenbaldachin; neben ihr lagen Flaschen mit heißem Wasser. Die schweren Winterbettvorhänge waren an den gedrechselten Pfosten festgebunden, und das einzige Licht im Raum kam von den winzigen, flackernden Flammen im
Weitere Kostenlose Bücher