Das Rad der Zeit 9. Das Original: In den Klauen des Winters (German Edition)
Bildwände verliehen dem Holzboden den Anschein, von einem Wald voller mit leuchtenden Blüten bewachsener Kletterpflanzen und farbenprächtiger Vögel umgeben zu sein. Die Luft war voll süßem Duft und lieblichem Vogelgezwitscher. Allein der Torbogen verdarb die Illusion. Warum diese Erinnerung an etwas, das verloren war? Außerhalb dieses Ortes in der Nähe von Shayol Ghul konnten sie genauso wenig Schocklanzen oder Shoflügel herstellen, wie sie Bildwände errichten konnten. Und soweit er sich erinnerte, hatte sie alles verabscheut, was mit der Natur zu tun hatte.
Osan’gar runzelte über die ›Idioten‹ und ›blinden Narren‹ die Stirn, was nun wirklich sein Problem war, glättete das unscheinbare, faltige Gesicht, das so wenig Ähnlichkeit mit dem hatte, mit dem er geboren worden war, aber schnell wieder. Egal mit welchem Namen man ihn rief, er hatte immer gewusst, wen er herausfordern konnte und wen nicht. »Eine Sache des Zufalls«, sagte er ruhig, obwohl er anfing, seine Hände zu ringen. Eine alte Gewohnheit. Gekleidet wie ein Herrscher dieses Zeitalters trug er einen Mantel, der so mit goldenen Stickereien übersät war, dass der rote Stoff darunter fast völlig verborgen wurde, und die Stiefel waren mit goldenen Troddeln besetzt. An Hals und Handgelenken bauschte sich genug Spitze, um ein Kind einzukleiden. Der Mann hatte nie begriffen, was man unter Exzess verstand. Wären seine besonderen Fähigkeiten nicht gewesen, wäre er niemals zu einem der Auserwählten geworden. Er bemerkte, was seine Hände taten, riss das hohe Cuendillar -Weinglas von dem runden Tisch neben seinem Stuhl und atmete das Aroma des dunklen Weins tief ein. »Einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung«, murmelte er und versuchte beiläufig zu klingen. »Das nächste Mal wird er getötet oder gefangen genommen. Der Zufall kann ihn nicht immer beschützen.«
»Ihr wollt Euch auf den Zufall verlassen?« Aran’gar lag auf einem langen Stuhl, der an ein Sofa erinnerte. Sie schenkte Osan’gar ein rauchiges Lächeln und zog das Bein mit dem nackten Fuß langsam an, bis der Schlitz in ihrem hellroten Rock es bis zur Hüfte entblößte. Jeder Atemzug drohte sie von dem roten Satin zu befreien, der ihre vollen Brüste nur mühsam bändigte. Seit ihrer Verwandlung in eine Frau hatte sich ihr ganzes Gehabe verändert, aber das erstreckte sich nicht auf den Kern dessen, was in einen weiblichen Körper gepflanzt worden war. Demandred verachtete keineswegs fleischliche Genüsse, aber eines Tages würden ihre Begierden ihr noch den Tod bringen. Wie es bereits schon einmal geschehen war. Nicht, dass er sie betrauern würde, wenn es das nächste Mal endgültig war. »Ihr wart dafür verantwortlich, ihn im Auge zu behalten, Osan’gar«, fuhr sie fort und ihre Stimme liebkoste jede Silbe. »Ihr und Demandred.« Osan’gar zuckte zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Aran’gar lachte kehlig. »Mein Schützling ist …« Sie drückte den Daumen auf den Stuhlrand, als würde sie etwas festhalten, und lachte erneut.
»Ich glaube, Ihr solltet etwas besorgter sein, Aran’gar«, murmelte Graendal in ihren Wein. Sie verbarg ihre Verachtung genauso überzeugend wie der beinahe durchsichtige silbrige Nebel ihres Gewandes aus Streith ihre üppigen Kurven. »Ihr und Osan’gar und Demandred. Und Moridin, wer auch immer er ist. Vielleicht solltet ihr al’Thors Erfolg genauso sehr fürchten wie sein Scheitern.«
Lachend griff Aran’gar nach der Hand der stehenden Frau. Ihre grünen Augen funkelten. »Und vielleicht könntet Ihr mir ausführlicher erklären, was Ihr damit meint, wenn wir unter uns sind?«
Graendals Gewand verwandelte sich in schwarzen, verbergenden Rauch. Sie riss sich mit einem heiseren Fluch los und trat von dem Stuhl zurück. Aran’gar … kicherte.
»Was wollt Ihr damit sagen?«, rief Osan’gar schneidend aus und sprang von seinem Stuhl hoch. Sobald er stand, nahm er die Pose eines Schulmeisters ein und packte seine Revers, während sein Tonfall pedantisch wurde. »Meine liebe Graendal, erstens bezweifle ich, dass selbst ich eine Methode entwickeln könnte, Saidin vom Schatten des Großen Herrn zu befreien. Al’Thor ist ein Primitiver. Was er auch versucht, es wird sich letztlich als unzulänglich erweisen, und ich für meinen Teil kann nicht glauben, dass er eine Vorstellung hat, wie er überhaupt damit anfangen soll. Auf jeden Fall werden wir ihn schon bei dem Versuch aufhalten, weil es der Große Herr so will.
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