Das Rad der Zeit 9. Das Original: In den Klauen des Winters (German Edition)
genug, um ein paar Münzen aus ihrer abschließbaren Truhe zu holen. Die Inspektion war heute ihre einzige Pflicht gewesen und der Rest des Tages gehörte ihr. Statt sich zusätzliche Aufgaben aufzubürden, würde sie ihn ausnahmsweise dazu nutzen, Andenken zu kaufen. Vielleicht einen dieser Dolche, den die Einheimischen am Hals trugen, vorausgesetzt, sie konnte einen ohne Juwelen finden, die hier am Griff so beliebt waren. Und natürlich Lackarbeiten; die waren hier so gut wie im Kaiserreich und die Muster waren so … fremdartig. Einkaufen würde beruhigend sein. Sie brauchte das.
Die Pflastersteine des Mol Hara glänzten noch immer feucht vom Morgenregen und die Luft war von einem angenehmen Salzgeruch erfüllt, der sie an ihr Heimatdorf am See von L’Heye erinnerte, wo sie zur Welt gekommen war, auch wenn die schneidende Kälte sie den Umhang enger um ihren Körper ziehen ließ. In Abunai war es niemals so kalt gewesen, und sie hatte sich nie daran gewöhnen können, ganz egal, wie weit gereist sie war. Aber die Erinnerungen an Zuhause boten keinen Trost. Während sie sich ihren Weg durch die überfüllten Straßen bahnte, drängten sich die Gedanken an Renna und Seta so sehr in den Vordergrund, dass sie andere Leute anrempelte und beinahe vor den Wagenzug eines Händlers gelaufen wäre, der die Stadt verließ. Ein Ruf der Kutscherin drang zu ihr durch und sie sprang gerade noch rechtzeitig zurück. Der Wagen polterte genau dort, wo sie eben gestanden hatte, über das Straßenpflaster, und die Frau auf dem Kutschbock, die die Peitsche schwang, hatte keinen Blick für sie übrig. Diese Fremden hatten keine Vorstellung davon, welcher Respekt einer Sul’dam zustand.
Renna und Seta. Jeder, der in Falme dabei gewesen war, trug Erinnerungen in sich, die er vergessen wollte, Erinnerungen, über die sie nicht sprachen, es sei denn, sie hatten zu viel getrunken. Sie hatte auch welche, aber bei ihr ging es nicht um das Grauen, gegen vage bekannte Geister aus den Legenden zu kämpfen oder die Bestürzung der Niederlage oder Visionen des Wahnsinns am Himmel. Wie oft hatte sie sich gewünscht, an diesem Tag nicht nach oben gegangen zu sein? Wenn sie sich doch nur nicht gefragt hätte, wie es Tuli ging, der Damane mit den wunderbaren Fertigkeiten in der Metallverarbeitung. Aber sie hatte in Tulis Zwinger hineingeschaut. Und gesehen, wie Renna und Seta verzweifelt versucht hatten, die A’dam von ihren Hälsen zu entfernen; sie hatten auf den Knien vor Schmerzen geschrien, und die Übelkeit hatte sie schwanken lassen, während sie an den Kragen herumrissen. Erbrochenes beschmutzte die Vorderseiten ihrer Gewänder. In ihrer wilden Panik hatten sie nicht gesehen, wie sie entsetzt zurückwich.
Nicht wegen des schrecklichen Anblicks, zwei Sul’dam als Marath’Damane entlarvt zu sehen, sondern wegen des plötzlichen Grauens, das in ihr emporstieg. Sie glaubte oft, die Gewebe der Damane beinahe sehen zu können, und sie spürte immer die Anwesenheit einer Damane und erkannte, wie stark sie war. Das konnten viele der Sul’dam ; jeder wusste, dass das von der langen Erfahrung im Umgang mit den Damane kam. Aber der Anblick dieses verzweifelten Paars weckte unwillkommene Gedanken, verlieh dem, was sie immer akzeptiert hatte, ein neues und furchterregendes Aussehen. Sah sie die Gewebe nur beinahe oder tatsächlich? Manchmal glaubte sie sogar, das Lenken der Macht zu fühlen . Selbst Sul’dam mussten sich bis zum fünfundzwanzigsten Namensgebungstag dem jährlichen Test unterziehen, und sie hatte bestanden, indem sie jedes Mal versagt hatte. Nur … Sobald man Renna und Seta entdeckte, würde es einen neuen Test geben, um die Marath’Damane aufzuspüren, die dem ersten entgangen waren. Ein solcher Schlag würde möglicherweise das Reich selbst erschüttern. Und noch während sich das Bild von Renna und Seta in ihr Gedächtnis brannte, hatte sie mit unumstößlicher Sicherheit gewusst, dass Bethamin Zeami nach diesem neuen Test keine respektierte Bürgerin mehr sein würde. Stattdessen würde eine Damane namens Bethamin dem Reich dienen.
Die Scham ließ sie noch immer erstarren. Sie hatte ihre eigenen Ängste vor die Bedürfnisse des Reiches gestellt, vor alles, von dem sie wusste, dass es richtig und gut war. Der Krieg kam nach Falme und mit ihm die Albträume, aber sie hatte sich nicht unverzüglich mit einer Damane verbunden und sich in die Schlachtformation eingereiht. Stattdessen hatte sie die Verwirrung ausgenutzt, um sich
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