Das Rätsel deiner Leidenschaft
Dorf je gesehen hatte. Sie unterrichtete mich auch jeden Tag. Aber dann wurde mein Vater krank.« Sie schüttelte den Kopf. »Das änderte alles. Meine Mutter vergötterte ihren Mann, wie auch er sie vergötterte, und seine Krankheit erschütterte sie bis ins Innerste. Sie bereitete die Mittel für seine Behandlung zu, und dabei unterlief ihr ein Fehler. Ein furchtbarer Fehler. Einen Tag später war mein Vater tot. Nicht einmal ein Jahr später ist auch sie gestorben. Ich war damals dreizehn.«
Die Verbitterung und Wut in ihrer Stimme erinnerten an das verletzte Kind, das sie einmal gewesen war. Max bereute jetzt fast, dass er das Thema angesprochen hatte. Aber auch er hatte ihr Dinge über seine Familie anvertraut, die er noch nie jemandem erzählt hatte. Und bisher war Sabine auch nicht aufgestanden, um zu gehen. »Wie ist sie gestorben?«, fragte er.
»Ein Wächter muss täglich eine kleine Menge des Elixiers einnehmen. Das gehört zu den Pflichten eines Wächters, denn es stärkt die Verbindung mit dem Elixier, mit unserem Heimatland.« Sabine schüttelte den Kopf. Sie sah Max nicht an, sondern starrte auf das Laken, in das sie sich gehüllt hatte. »Meine Mutter hat einfach damit aufgehört. Von einem Tag auf den anderen wollte sie keinen Tropfen mehr zu sich nehmen. Irgendwann gab ihr Körper auf, und sie starb.«
»Und seitdem lebst du bei deinen Tanten?«
»Ja. Sie waren immer für uns da und haben versucht, meiner Mutter zu helfen, als es schlimmer mit ihr wurde, aber sie war fest entschlossen, sich zu zerstören.«
»Was ist mit anderen Leuten? Können sie das Elixier einnehmen? Oder kann es nur äußerlich wie bei Verletzungen verwendet werden?«
»Es ist zu gefährlich für andere, es einzunehmen, außer in extrem geringen Mengen und nur in wirklich schlimmen Notfällen. Es ist sehr gefährlich.« Sie unterbrach sich für einen Moment. »Unsere Leute gehen sehr vorsichtig mit dem Elixier um, weil wir nicht wollen, dass sich die Geschichte wiederholt.«
Max dachte, dass er Marcus all diese Warnungen würde übermitteln müssen, wenn er ihm die Probe brachte. Marcus würde die Grenzen respektieren, aber Max wollte auch nicht, dass etwas über das Elixier bekannt wurde. Diese Art von Macht wäre zu verlockend für sehr viele Kriminelle.
Er schwieg und dachte über alles nach, was Sabine ihm gesagt hatte. Auch darüber, dass sie beide so jung ihre Familien verloren hatten. Er konnte die Wut verstehen, die sie auf ihre Mutter hatte. Sabine betrachtete deren Tod noch immer durch die Augen eines Kindes. Kummer konnte die Wirklichkeit verzerren. Doch vieles von dem, was sie heute Nacht und in den letzten Tagen gesagt hatte, ergab jetzt einen Sinn. Sie sagte nie »wir« oder »ich«, sondern immer »sie«, wenn sie von den Wächtern sprach, als gehörte sie nicht zu ihnen.
»Du hast mir gesagt, du wärst der dritte Wächter«, erinnerte er sie leise.
Sabine zog das Laken bis unters Kinn und schwieg. Trotzdem konnte er in ihrem Gesicht die Wahrheit erkennen. Den Moment der Überraschung, bevor sie ihre Emotionen sorgfältig verbarg. Er hatte richtig geraten.
Dennoch zögerte sie noch. »Leg die Karten auf den Tisch«, sagte er. »Du hast die Runde verloren. Warum sagst du mir also nicht einfach die Wahrheit? Das zumindest schuldest du mir, glaube ich.«
»Warum?« Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten vor Empörung. »Wieso bin ich dir etwas schuldig?«
Ihre Worten schmerzten. Wie konnte sie so etwas fragen? Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten. Nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Aber sie tat es und behandelte ihn, als wäre er nicht mehr als eine bezahlte Hilfskraft.
Er schüttelte frustriert den Kopf. »Ohne mich hättest du keinen Zugang zu der vollen Prophezeiung gehabt. Ganz zu schweigen davon, dass ich dir und deinen Tanten Schutz geboten habe. Und ich habe dir geholfen, die Hinweise zu entziffern.« Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar.
»Natürlich. Ich wollte auch nicht undankbar erscheinen«, sagte sie.
»Das hat nichts mit Dankbarkeit zu tun.« Er schwang die Beine über den Rand des Betts und griff nach der Hose. »Du vertraust mir nicht. Und hast es nie getan.«
»Das ist es nicht«, widersprach sie.
»Doch, das ist es«, gab er mit unüberhörbarem Ärger zurück. Aber das kümmerte ihn nicht. Er war verärgert. Er hatte alles richtig gemacht, um ihr Vertrauen zu verdienen, und trotzdem hatte sie ihn belogen.
Verdrossen
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