Das Rätsel deiner Leidenschaft
bist offensichtlich müde. Warum legst du dich nicht hin?« Als Sabine den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Du musst ja nicht schlafen, sondern kannst die Zeit nutzen, dir das Buch der Seher anzuschauen.«
Sie erlaubte ihm, sie die Treppe zu dem kleinen Schlafzimmer hinaufzuführen, wo er ihr die frische Bettwäsche gab und sich dann ein Nachtlager auf dem Boden zurechtzumachen begann. Aus der Decke, die auf einem Stuhl gelegen hatte, wurde ein flaches, wenig einladendes Bett, aber für eine Nacht würde es reichen. Und sein mehrfach gefalteter Rock ergab ein halbwegs brauchbares Kissen.
Nachdem sie ihr Bett bezogen hatte, setzte Sabine sich auf die Kante und sah sich in dem Zimmer um. »Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt«, sagte sie wehmütig. »Mir ist, als hätte er zu meiner Familie gehört.«
Max sagte nichts. Er hatte keine Worte des Trostes, nicht einmal, wenn er es gewollt hätte. Doch dem war nicht so. Sein Wunsch von vorhin, Sabine trösten zu wollen, hatte ihn irritiert. Es fiel ihm nicht schwer, jemanden zu schockieren oder zu erheitern, und er konnte eine Frau mit wenigen Worten verführen. Aber trösten? Nein, das war nichts für ihn. Der Impuls, sie zu trösten, war ein zu heikles Gefühl. Und viel zu nahe an etwas sehr viel Tiefergehendem.
Er konnte nicht riskieren, Sabine zu nahe an sich heranzulassen, durfte ihr nicht erlauben, an jenen Teil in ihm zu rühren, den er schon vor langer Zeit begraben hatte. Er wusste nur zu gut, wie weh es tat, jemanden zu verlieren, den man liebte.
Er konnte sie verführen, das ja. Er wusste, dass sie auf seine Berührung reagieren würde, und es wäre eine Lüge zu behaupten, er begehrte sie nicht. Aber sie jetzt in den Arm zu nehmen oder zu küssen, könnte als Mitleid missverstanden werden. Nein, was er brauchte, war ein bisschen Schlaf.
Mit diesem Gedanken streifte er sein Hemd ab und warf es auf den Stuhl, zog Strümpfe und Stiefel aus und legte sich auf sein hartes Nachtlager auf dem Boden. Doch selbst hundemüde, wie er war, war er sich Sabines Nähe nur allzu gut bewusst und begann sich vorzustellen, wie sie ihn zu sich ins Bett winkte. Verdammt!
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte die Zimmerdecke an. Das Rascheln der Buchseiten, wenn Sabine eine Seite umblätterte, war das einzige Geräusch im Zimmer.
Nach etwa einer Stunde drehte Max sich auf die Seite. Sabine saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und las im schwachen Licht der schon fast ganz heruntergebrannten Kerze neben ihr. Ihre Lippen bewegten sich beim Lesen.
»Die Kerze wird gleich verlöschen«, sagte er.
Sabine schrak zusammen, als sie seine Stimme hörte, und warf einen Blick auf die Kerze. »Du hast recht.«
»Schon was gefunden?«
»Noch nicht.« Sie legte das Buch neben die Kerze und seufzte schwer.
»Gute Nacht, Sabine«, sagte er.
»Gute Nacht.« Sie spitzte ihre Lippen und blies die Kerze aus, sodass es fast vollständig dunkel war im Zimmer. Schwaches Mondlicht fiel durch das Fenster und zeichnete Schatten auf den Boden. Max blieb auf der Seite liegen und beobachtete Sabine, als sie hinter sich griff, um ihr Kleid zu öffnen. Als sie den leichten Wollstoff abgestreift hatte, setzte sie sich wieder hin, um ihre Strümpfe auszuziehen. Obwohl Max kaum etwas sehen konnte, genügten der schlanke Umriss ihres Beins und die Silhouette ihres wohlgeformten Körpers, um sein Blut in Wallung zu bringen und eine jähe Lust in ihm zu wecken. Dieses schlichte Bild war erotischer als der splitternackte Körper jeder Frau, mit der er je zusammen gewesen war. Seine Fantasie konnte die restlichen Details hinzufügen – die warme olivfarbene Haut, die sanfte Kurve ihrer Wade bis hinab zu ihrem zarten Knöchel ... Ja, er konnte sich jeden Zentimeter von ihr vorstellen.
*
Der Mond schien durch die verschlissenen Gardinen an dem kleinen Fenster in Phinneas' Schlafzimmer. Sabine war müde gewesen, als Max in die Küche gekommen war, wirklich müde, aber nach der Entdeckung von Phinneas' Buch war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen. Sie hatte gelesen, so viel sie konnte, vielem aber keinen Sinn entnehmen können. Und dann war da noch der Brief, den sie in einem der Sofakissen gefunden hatte.
Sabine lag einige Minuten reglos da und lauschte. Sie wollte sichergehen, dass Max schlief, bevor sie in die Küche hinunterschlich, um den Brief zu lesen, von dem sie Max nichts gesagt hatte. Anscheinend war Phinneas gerade dabei gewesen, ihn zu schreiben, als er gestört
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