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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Identifizierung reicht es doch immer noch, ganz egal, wie lange sie im Wasser gelegen haben. Zähne, Haare, Finger- und Zehennägel — läßt sich doch alles heranziehen, das müßten Sie doch eigentlich selbst wissen, Lewis.»
    «Vielleicht sehen Sie ihn sich erst einmal an, Sir», sagte Lewis.
    «Sie sind sowieso immer viel zu pessimistisch», fuhr Morse fort. «Offenbar haben wir ja immerhin schon feststellen können, daß er männlichen Geschlechts ist, und das ist doch auch schon etwas; falls wir die gesamte Bevölkerung durchforsten müssen, reduziert das unsere Mühe um mindestens fünfzig Prozent.»
    Lewis ignorierte seinen munteren Ton. «Sie sollten ihn sich jetzt aber doch einmal ansehen», wiederholte er.
    Die uniformierten Constables und die beiden Sanitäter traten beiseite, als sie Morse herankommen sahen. Der blieb, als er des unförmigen Umrisses unter der Segeltuchplane gewahr wurde, abrupt stehen und machte keinerlei Anstalten, diese wegzuziehen. Und tatsächlich zögerte er noch mehr als gewöhnlich, sich den Anblick eines toten Körpers zuzumuten. Seine Augenbrauen zogen sich in Vorwegnahme dessen, was er gleich sehen würde, abwehrend zusammen. Was sich da unter der Plane abzeichnete, war viel zu klein für die Leiche eines Erwachsenen. Das mußte ein Kind sein. Warum hatte Lewis ihm das denn nicht gesagt?
    Morse wies die Constables und die Sanitäter an, sich so zu postieren, daß der herübergaffenden Menge der Blick versperrt war, dann hob er vorsichtig die Plane an — und ließ sie sofort wieder fallen. Er war aschfahl geworden, und in seinen Augen stand das blanke Entsetzen. «Mein Gott, mein Gott», murmelte er leise und wandte sich schaudernd ab.
    Er stand noch immer an derselben Stelle, darum bemüht, seine Fassung wieder zu gewinnen, als ein klappriger alter Ford herangebraust kam und mit quietschenden Bremsen neben der Ambulanz hielt. Ihm entstieg ein buckliger, grämlich wirkender Mann, der so hinfällig aussah, daß man ihm die amtliche Funktion, in der er hergekommen war, kaum Zutrauen mochte — es war der Gerichtsmediziner. Er begrüßte Morse mit einer Stimme, die kaum weniger verdrießlich war als sein Aussehen.
    «Dachte, du säßest längst im Gasthaus.»
    «Da ist noch geschlossen.»
    «Du klingst ja so komisch. Ist irgendwas?»
    Morse deutete nur stumm hinter sich. Der Pathologe nickte verständnisvoll, ging schwerfällig neben der Leiche in die Knie und schlug die Plane zurück.
    Er pfiff leise durch die Zähne. «Wirklich nicht sehr appetitlich...»
    Morse gab durch schwache Laute zu verstehen, daß er genau derselben Ansicht sei, drehte sich jedoch nicht um. Offenbar hatte er vor, den Pathologen machen zu lassen.
    Dieser begann mit einer Reihe von Untersuchungen, deren Ergebnisse er in ein schwarzes Notizbuch schrieb. Das meiste von dem, was er festhielt, wäre wohl nur einem anderen Gerichtsmediziner verständlich gewesen. Die ersten, nach bloßem Augenschein eingetragenen Beobachtungen konnte jedoch auch ein Laie verstehen.

    Geschlecht: männlich; Alter: zwischen 60 und 65; Hautfarbe: weiß; Rumpf in gutem Ernährungszustand bei leichter Neigung zu Fettansatz; Kopf abgetrennt in Höhe des vierten Halswirbels, fehlt (Schnitt unregelmäßig, ungeübte Hand?); linke und rechte Hand oberhalb des Handgelenks abgetrennt, ebenfalls fehlend; rechtes und linkes Bein durch Schnitte (professionell?) ca. 12 cm unterhalb des Hüftgelenks abgetrennt, fehlen; Haut über den Waschfraueneffekt hinaus...

    Nach einer Weile erhob der Pathologe sich ächzend aus seiner unbequemen Stellung und trat, die Hände auf den Rücken pressend, das Gesicht schmerzverzerrt, neben Morse.
    «Weißt du ein Mittel gegen Lumbago?»
    «Ich dachte, du wärst hier der Arzt.»
    «Arzt? Ich bin doch bloß ein Leichenschnippler.»
    «Was mich wundert: Wie schaffst du es, einen Hexenschuß mitten im Sommer zu kriegen?»
    «Mein Hexenschuß ist saisonunabhängig!»
    «Ich könnte mir gut vorstellen, daß ein Tropfen Scotch helfen würde.»
    «Ich dachte, du hättest gesagt, es sei geschlossen.»
    «Schon, aber in einem Notfall... Morse’ Stimme schien zunehmend an Kraft zu gewinnen.
    Einer der Sanitäter kam auf sie zu. «Können wir ihn jetzt wegschaffen?»
    «Mir nur recht», sagte Morse. Doch der Pathologe war dagegen. «Nein, nein, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden; ich möchte noch ein, zwei Dinge mit dem Chief Inspector klären, dann können Sie ihn meinetwegen mitnehmen.»
    Achselzuckend

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