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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Penicillintabletten. Das bringt die Infektion zum Abklingen, und die kleine Schwellung, die Sie da jetzt haben, wird ebenfalls verschwinden. Wenn Sie dann in... sagen wir mal etwa einer Woche wiederkommen, dann...»
    «Ich soll noch eine ganze Woche so herumlaufen?» fragte Morse empört.
    «Vorher kann ich sowieso nichts tun. Was meinen Sie, was Sie für Schmerzen hätten, wenn ich jetzt an den Zahn ginge? Bei der Entzündung, die Sie im Moment haben, bliebe das Betäubungsmittel wirkungslos, und Sie müßten schon ein sehr tapferer Mann sein, um...»
    «Na, dann ist es wohl wirklich besser, wir warten noch ab», sagte Morse kleinlaut. Während er aufstand, fielen seine Augen auf ein Bord hinter dem Schreibtisch mit einer Reihe von Gipsabdrücken mehr oder weniger unvollständiger Gebisse. Morse fand den Anblick abstoßend. Er erinnerte sich, wie ihn schon früher, während seiner Schulzeit, beim Anblick der Schädelzeichnungen in seinem Biologiebuch immer ein Schauder erfaßt hatte.
    Der Zahnarzt hatte seinen Blick bemerkt und deutete ihn offenbar als Interesse, denn er griff nach einem der Abdrücke und demonstrierte Morse die Beweglichkeit des Unter- und Oberkiefers, indem er sie mehrere Male spielerisch auf- und zuschnappen ließ. «Gebisse sind ein überaus interessantes Studienobjekt. Keines gleicht dem anderen, jedes ist einzigartig — genau wie Fingerabdrücke.» Mit liebevoller Behutsamkeit stellte er den Abdruck wieder zurück an seinen Platz; es war deutlich, daß Zähne ihn nicht nur aus Gründen des Broterwerbs interessierten. Er stand auf, um Morse das Rezept zu geben. Dieser stellte erstaunt fest, daß der Arzt ein ausgesprochen kleiner Mann war — das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Ob der weiße Kittel ihn getäuscht hatte?
    Doch während er in der Apotheke stand und darauf wartete, bedient zu werden, kam ihm die Lösung: der Arzt war ihm im Sitzen normal groß erschienen, erst als er aufgestanden war, hatte man seine geringe Größe erkennen können. Es mußte also an den Beinen gelegen haben...
    «Sind Sie Rentner, Sir?» fragte die Apothekerin, als sie sein Rezept entgegennahm. Morse verneinte mit einem deprimierten Lächeln. (Sah er wirklich schon so alt aus?)
    Als sie ihm die Tabletten gab, schärfte sie ihm ein, sich genau an die Dosierung zu halten und sie auch tatsächlich bis zum Ende zu nehmen, so daß Morse, als er die Tür hinter sich zuzog, geradezu aufatmete, froh, ihr entronnen zu sein.
    Auf dem Weg nach Kidlington fielen ihm wieder die kurzen Beine des Zahnarztes ein. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß ja auch Beine, vorausgesetzt, sie waren auf die eine oder andere Art disproportional, durchaus ein Identifizierungsmerkmal sein konnten. War damit jetzt vielleicht das Rätsel gelöst, warum der Mörder seinem Opfer die unteren Extremitäten abgetrennt hatte?
    Er erreichte das Präsidium, ohne mit seinen Überlegungen zu einem Abschluß gekommen zu sein. In seinem Büro holte er sich ein Glas Wasser und schluckte dann so viel Tabletten wie vorgeschrieben, wobei er versuchte, sich vorzustellen, wie das Penicillin nun dem     «Sie haben gesagt, Sie wollten um acht Uhr hier sein!» sagte er vorwurfsvoll.
    «Seien Sie froh, daß ich überhaupt hier aufgetaucht bin», fauchte Morse und wies mit Leidensmiene auf seine geschwollene Backe.
    «Ein schlimmer Zahn?»
    « Schlimm ist noch ein viel zu milder Ausdruck.»
    «Meine Frau schwört in solchen Fällen immer auf...»
    «Ich wußte gar nicht, daß Ihre Frau Zahnärztin ist», sagte Morse unwirsch.
    Lewis seufzte und beschloß, fürs erste den Mund zu halten.
    Nach einer Weile schienen die Tabletten zu wirken, die Schmerzen ließen nach, und Morse’ Laune besserte sich. Eine Stunde lang diskutierten Lewis und er über das Brieffragment, das sie in der Hosentasche des Toten gefunden hatten, und darüber, welche Bedeutung den abgetrennten Beinen zuzumessen sei.
    «Man könnte fast glauben, irgend jemand habe das Ganze arrangiert, um es uns besonders schwer zu machen», bemerkte Lewis.
    Morse nickte langsam und forderte den Sergeant zu dessen Überraschung auf, den Satz noch einmal zu wiederholen. Folgsam begann Lewis erneut: «Man könnte fast glauben, daß irgend jemand das Ganze arrangiert hat...» Morse winkte ab, und Lewis sah, wie in seine Augen jener merkwürdig leere Blick trat, der in der Vergangenheit stets darauf hingedeutet

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