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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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der Rückseite des College (Benutzung dieser Einstellplätze nur für Angehörige des Lehrkörpers!), passierte, wiederum vorschriftswidrig, den Vordereingang ( Für Besucher verboten!) und meldete sich beim Pedell. Dieser, ein noch junger Mann, trug zum Zeichen seiner Würde eine Melone, und sein Verhalten zeigte bereits jene Mischung aus Servilität und Geschäftigkeit, die Leuten seines Berufsstandes so häufig — wenn auch in der Regel erst nach längerer Dienstzeit — zu eigen ist. Er war selbstverständlich sofort bereit, Morse Auskunft zu geben. Ja, die meisten der Studenten seien verreist, ebenso die Professoren, so unter anderem der Rektor, der Stellvertretende Rektor, der Quästor, der Leitende Tutor, der Dienstälteste Fellow, der...
    «Alle ab auf die Bahamas?»
    «Nein, Sir», antwortete der Pedell, «auf dem Kontinent und nach Griechenland.»
    «Es zieht sie wohl zu den Nacktbadestränden, was?»
    Der Mund des Mannes verzog sich einen Moment lang zu einem anzüglichen Grinsen, und es hätte Morse nicht gewundert, wenn er unter seinen Tisch gegriffen und eine unanständige Postkarte hervorgeholt hätte, dann aber schien er sich zu besinnen, wo er war, und antwortete mit einer Spur heuchlerischen Tadels: «Darüber Vermutungen anzustellen steht mir nicht zu, Sir.»
    «Was ist mit Dr. Browne-Smith? Ist er inzwischen zurück?»
    «Nein, ich habe ihn noch nicht wieder gesehen, aber wir hatten eine Nachricht von ihm, Moment...» Eifrig begann er, in einem Stapel Zettel auf seinem Tisch zu wühlen, wobei er die nicht interessierenden Notizen beiseitelegte, so daß Morse sie, obwohl sie von ihm aus gesehen umgekehrt herum lagen, entziffern konnte: Professor M. Liebermann — zurück 6. August. Post nachsenden: c/o Pension Heimstadt, Friedrichstr. 14, Zürich; Mr. G. Westerby — bis Ende August in Griechenland, Post aufbewahren; Dr. Browne-Smith...
    «Hier hab ich den Zettel, Sir.»
    Er reichte ihn Morse, der die wenigen handschriftlichen Zeilen rasch überflog: Bis auf Weiteres vereist. Post nicht nachsenden. Während er in Gedanken ganz automatisch das große in Weiteres durch ein kleines ersetzte und bei vereist ein zweites einfügte, fragte er: «Er hat also angerufen?»
    «Ja, Sir. Ich glaube, gestern. Kann aber auch schon Dienstag gewesen sein.»
    «Haben Sie den Anruf entgegengenommen?»
    Der Pedell nickte.
    «Und er war es selbst?»
    «Ich denke, ja», sagte der Pedell zögernd.
    «Kennen Sie ihn gut?»
    Der Pedell zuckte die Achseln. «Also gut ist übertrieben.»
    «Aber Sie haben jedenfalls seine Stimme erkannt?»
    «Nun ja, ich...»
    «Wie lange sind Sie schon hier?»
    «Etwas über drei Monate.»
    «So, so. Dann geben Sie mir jetzt mal die Schlüssel zu seinen Räumen», sagte Morse und streckte gebieterisch die Hand aus. Dem Mann blieb gar nichts anderes übrig, als es zu tun.
    Der Raum, den Morse betrat, war düster und abweisend. Es herrschte Totenstille. Alles hier zeugte von der lebenslangen Beschäftigung seines Bewohners mit antiker Kultur und Geschichte: angefangen bei den auf dem Schreibtisch verstreuten Fotografien, Dias und Postkarten über die Marmorbüste eines schmallippigen, strengblickenden Cicero bis hin zu einem dicken maschinengetippten Manuskript, das offenbar ein Ergebnis von Browne-Smiths Forschungen über Philipp von Makedonien war, den Vater Alexanders des Großen. An den wenigen Stellen, wo ungeachtet der vielen Bücherregale noch Wandfläche freigeblieben war, hingen große Schwarzweißaufnahmen klassischer Vasen und Skulpturen. Wenn Morse erwartet hatte, irgendwo Hinweise dafür zu finden, daß sich jemand Unbefugtes hier zu schaffen gemacht hatte, so sah er sich enttäuscht — alles in dem Zimmer befand sich augenscheinlich an seinem angestammten Platz.
    Der Raum besaß außer der, durch die Morse gekommen war, noch zwei weitere Türen. Die eine führte zu einer ziemlich vernachlässigt aussehenden Toilette, die andere zu einem trostlosen kleinen Schlafzimmer, das nichts enthielt als ein Bett, Hunderte von Büchern, ein Waschbecken und einen großen Mahagonischrank. Die Schranktür knarrte, als Morse sie öffnete. Er warf einen kurzen Blick auf die säuberlich aufgehängten Anzüge und Hemden und ärgerte sich, daß er nicht daran gedacht hatte, ein Zentimetermaß mitzubringen. Aber Planung von langer Hand hatte ihm eben noch nie gelegen. Er klopfte die Anzugtaschen ab; sie waren sämtlich leer, und so gab er sich schließlich damit zufrieden, sich aus der

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