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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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schließlich unter dem Bogen des Eingangstores verschwand; dann drehte er sich unvermittelt um.
    «Wie, zum Teufel, ist er hier hereingekommen?»
    «Ich muß die Tür offengelassen haben», sagte der Junge.
    «So? Nun, das wirst du dir ganz schnell abgewöhnen, mein Lieber. Tür zu! ist die erste und wichtigste Regel in unserem Beruf. Das könntest du eigentlich schon wissen. Wie lange bist du jetzt bei uns?» — «Mal gerade einen Monat», sagte der Junge mürrisch.
    Gilberts Ton wurde etwas freundlicher. «Nun, ich denke, wir können die Sache jetzt auf sich beruhen lassen. Es ist ja nichts passiert. Weißt du übrigens, wer der Mann war?»
    «Nein, aber ich habe gesehen, wie er in den Raum gegenüber gegangen ist, und ich habe gehört, wie er wieder herauskam.»
    «In das Apartment gegenüber?» Gilbert ging zur Tür, öffnete sie und blickte hinaus. «Dann war er also auch bei Dr. Browne-Smith.»
    «Er hat gesagt, er sei ein Freund von dem Mann hier.»
    «Und das hast du ihm geglaubt?»
    «Ja klar, warum nicht?»
    «In unserem Beruf ist es angebracht, nicht alles zu glauben, was einem erzählt wird. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Wir haben jeden Tag mit wertvollen Gegenständen zu tun, und es gibt überall kriminelle Existenzen, die nur auf eine Gelegenheit warten, um...»
    «Er hat nichts mitgehen lassen, da hab ich schon aufgepaßt», sagte der Junge aufsässig.
    «Das hatte ich auch nicht angenommen; aber was hat er eigentlich hier gemacht?»
    Charlie zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht. Er hat sich einfach ein bißchen umgesehen. Und dann hat er gesagt, daß er dem Mann hier eine Nachricht hinterlassen wollte.»
    «Eine Nachricht? Wo? Ich sehe keine Nachricht», sagte Gilbert scharf.
    «Ich weiß nicht, wo er sie hingetan hat», sagte der Junge ohne großes Interesse. «Ich habe nur gesehen, wie er sie getippt hat...»
    «Er hat sie getippt?»
    Charlie nickte und deutete in Richtung Schreibtisch. «Ja, auf der Maschine da. Nur ein paar Zeilen. Ich dachte, dagegen wäre nichts zu sagen.»
    «Nur ein paar Zeilen also; dagegen ist wohl wirklich nichts zu sagen.» Gilbert schien sich zu entspannen. «Aber eines solltest du dir trotzdem merken, mein Sohn: wenn du’s in unserem Gewerbe zu etwas bringen willst, dann mußt du dir angewöhnen, mißtrauischer zu werden. Bei Umzügen gibt es immer eine gewisse Unordnung, das liegt in der Natur der Sache, und es gibt bestimmte Leute, die versuchen, das auszunutzen. Sie tauchen plötzlich mitten im größten Chaos auf und behaupten, sie seien Verwandte und gekommen, um zu helfen. Du läßt sie arglos herein, und hinterher, wenn sie wieder weg sind, stellst du fest, daß das ganze Silber fehlt. Wie stehst du dann vor den Kunden da?! Kapiert jetzt?» sagte er scharf.
    «Jaaha», sagte der Junge gedehnt.
    «Gut, was das Mißtrauen angeht, so kannst du übrigens gleich anfangen zu lernen, was das eigentlich heißt. Ich möchte, daß du mal eben runterspringst zum Pedell und ihn fragst, ob er diesen angeblichen Freund von Mr. Westerby schon einmal hier gesehen hat und weiß, wer er ist.»
    Charlie tat, wenn auch ohne allzu große Begeisterung, wie ihm geheißen. Wieder ging Gilbert ans Fenster. Er wartete, bis der Junge außer Sichtweite war, dann streifte er sich ein paar Arbeitshandschuhe über, trat an den Schreibtisch, nahm die Schreibmaschine und trug sie, vorsichtig nach oben und unten blickend, in die Wohnung von Browne-Smith. Dort tauschte er die eine Maschine gegen die andere aus, die er mit zurück in Westerbys Apartment nahm.

    Als der Junge ins Zimmer trat, war Gilbert gerade dabei, den Kopf Jacob Burckhardts wieder einzupacken. Der Junge schien aufgeregt zu sein. Er schloß die Tür hinter sich und stieß hervor: «Er ist ein Bulle!»
    «Ach?» sagte Gilbert bloß und fuhr in seiner Arbeit fort. «Das finde ich eher beruhigend. Wahrscheinlich hat dich irgend jemand hier herum werkeln sehen und gedacht, du seist ein Einbrecher. Ja — das erscheint mir die einzig vernünftige Erklärung. Um diese Zeit sind fast alle Collegebewohner verreist, die Gebäude sind beinahe ausgestorben; geradezu ideal für Einbrecher. Na, und da paßt der eine oder andere, der noch hier ist, eben besonders auf.»
    Charlie nickte und machte sich wieder an die Arbeit. Mit ein paar Schlägen trieb er den letzten Nagel ins Holz und klebte dann die Adresse auf den Deckel: G. D. Westerby, Esq., Flat 6, 29 Cambridge Way, London WC1.

    Vierzehntes Kapitel
    Donnerstag, 24.

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