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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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umgeht», sagte Morse und kniete sich neben der Kiste hin. Mit zitternden Fingern tastete er das auffällige Objekt ab. Täuschte er sich, oder spürte er da tatsächlich unter seinen Fingerspitzen die Formen einer Nase und eines Mundes?
    «Was ist denn das hier eigentlich?» fragte er beinahe stammelnd vor mühsam unterdrückter Erregung. — Der Junge warf einen kurzen Blick in die Kiste. «Mit dem sollte ich mich besonders vorsehen, hat Mr. Gilbert gesagt», sagte er gleichmütig.
    «Und wer ist Mr. Gilbert?»
    « Ich bin Mr. Gilbert.»
    Morse fuhr erschrocken herum. In der Tür stand ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, in grauer Flanellhose und Hemdsärmeln. Er trug eine Goldrandbrille. Der Blick, den er Morse zuwarf, verriet, daß mit ihm nicht zu spaßen war. Dieser bemerkte erst jetzt, daß der Mann in der Tür genau wie er selbst einen Schal trug, der die untere Gesichtshälfte verdeckte. Ob er auch Zahnschmerzen hatte?
    «Oh, guten Tag, Mr. Gilbert. Ich bin ein... äh... Kollege von Westerby. Er bat mich, ab und zu mal bei ihm vorbeizuschauen, um zu sehen, ob auch alles mit der nötigen Sorgfalt verpackt wird.»
    «Da kann er ganz beruhigt sein.»
    «Er sagte mir, er besitze einige außerordentlich wertvolle Dinge, die...»
    «Er braucht sich keine Sorgen zu machen. Wir behandeln alle uns anvertrauten Sachen mit der allergrößten Vorsicht.» Geschickt suchte er sich zwischen den Kisten hindurch einen Weg und stand gleich darauf neben Morse, der noch immer kniete. «Wissen Sie, die Leute regen sich bei einem Umzug immer völlig unnötig auf - vor allem die Frauen...»
    «Nun ja, aber es gibt ja auch tatsächlich Dinge, die buchstäblich unersetzlich sind.»
    «So, meinen Sie?» Sein sarkastischer Ton schien sich auf so viel Erfahrung zu gründen, daß Morse sich nicht in der Position sah zu widersprechen. Dazu war allerdings auch kaum Gelegenheit, denn Gilbert fuhr im gleichen Atemzug fort: «Eins können Sie mir glauben — den meisten meiner Kunden ist das Geld von der Versicherung allemal am liebsten.»
    «Sie können das sicher besser beurteilen als ich», sagte Morse höflich und stand auf. «Im übrigen bin ich hier nur auf den ausdrücklichen Wunsch von Westerby und...»
    «Das habe ich schon verstanden. Sehen Sie sich nur um, und verschaffen Sie sich selbst einen Eindruck davon, wie wir arbeiten. Uns liegt nichts mehr am Herzen, als unsere Kunden zufriedenzustellen, nicht wahr, Charlie?»
    Charlie nickte gehorsam. «Ja, Mr. Gilbert.»
    Fast gegen seinen Willen wanderten Morse’ Augen zurück zu dem ominösen Gegenstand in der Kiste, der einem Kopf nicht nur ähnlich sah, sondern sich auch noch genauso anfühlte. Gilbert war sein Blick nicht entgangen.
    «Der ist schon okay da drin, um den brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Hat uns bestimmt eine Viertelstunde gekostet, bis wir ihn da endlich zur Ruhe gebettet hatten.»
    «Ich möchte mich gern selbst davon überzeugen, daß... äh... er wirklich unbeschädigt ist», sagte Morse. Wieso klang seine Stimme auf einmal so schrill?
    «Sie verlangen doch hoffentlich nicht von mir, daß wir ihn noch mal auspacken?!» sagte Gilbert und gab sich nicht die geringste Mühe, seinen Ärger zu verbergen.
    Morse nickte nur.
    Mochte es eine Viertelstunde gedauert haben, den Gegenstand, wie Gilbert sich ausgedrückt hatte, zur Ruhe zu betten, der umgekehrte Vorgang dauerte nur Sekunden. Es war tatsächlich ein Kopf — der marmorne Kopf von Jacob Burckhardt, dem Schweizer Kunsthistoriker. Ein Kopf, abgetrennt vom Hals, und dennoch nicht der Kopf des Toten aus dem Kanal.
    Plötzlich kam Morse sich schrecklich lächerlich vor, und er hatte nur noch den einen Gedanken, so schnell wie möglich dieses Zimmer zu verlassen. Um seinen Abgang nicht allzu abrupt ausfallen zu lassen und um Gilbert, der ihn, das zerknüllte Zeitungspapier in der Hand, erbittert ansah, zu besänftigen, sagte er in versöhnlichem Ton: «Wie ich sehe, sind wir ja Leidensgenossen.»
    Gilbert blickte zuerst verblüfft, dann mißtrauisch, bis er schließlich begriff, worauf Morse anspielte. «Ach, Sie meinen den Schal - ja, ein Abszeß. Der Zahnarzt will aber nicht dran, solange alles entzündet ist. Und bei Ihnen?»
    Morse berichtete ihm von seinem Backenzahn, und zwei Minuten führten die beiden Männer ein fast freundschaftliches Gespräch, bis Morse eine Pause benutzte, um sich zu verabschieden.
    Gilbert trat ans Fenster und blickte Morse nach, wie er den Innenhof überquerte und

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