Das Rätsel der dritten Meile
daß er nicht selbst...»
Morse nickte.
«Können Sie mir einen Grund nennen, der Sie zu dieser Annahme berechtigt?» fragte Andrews in dem Ton eines Professors, der einen offensichtlich schlecht vorbereiteten Studenten auffordert, seine Ansicht aus dem Text zu belegen.
«Ja», sagte Morse ernst, «die Tatsache, daß er tot ist.»
Wenn diese Eröffnung Andrews schockiert hatte, so ließ er sich das nicht anmerken. Er saß regungslos und sah Morse nur fragend an. Offenbar erwartete er nähere Erläuterungen.
Morse zog es jedoch vor, weitere Fragen zu stellen. «Wissen Sie zufällig, ob er Blutspender war?»
«Nein, davon ist mir nichts bekannt, aber das will nichts heißen. Das ist schließlich keine Sache, von der man viel Aufhebens machen würde.»
«Es gibt Leute, die haben an der Windschutzscheibe ihres Autos so eine Plakette Können Sie sich vielleicht erinnern, ob Sie...?»
«Nein.»
«Er hatte ein Auto?»
«Ja, einen großen schwarzen Daimler, der sehr viel Benzin verbraucht. Ich weiß das, weil er sich einmal bei mir darüber beklagt hat.»
«Haben Sie den Wagen in letzter Zeit irgendwo stehen sehen?»
«Nein.»
«Wie war das bei gesellschaftlichen Anlässen, was pflegte Browne-Smith zu trinken?»
«Dasselbe wie die meisten von uns: Scotch. Aber er hat nie viel getrunken. Auch in diesem Punkt war er ganz Aristoteliker — immer bemüht, das rechte Maß zu halten zwischen Zuviel und Zuwenig.»
Morse nickte.
«Sie kennen doch sicher die Geschichte, die man sich aus Cambridge erzählt», fuhr Andrews fort. «Trinity habe Wordsworth nie betrunken und Porson nie nüchtern gesehen? Nun, ersteres ließe sich auch von Dr. Browne-Smith behaupten: Lonsdale hat ihn nie betrunken gesehen.»
«Nach allem, was Sie sagen, habe ich den Eindruck, daß er ein überaus korrekter, ja geradezu pedantischer, aber auch wohl schrecklich langweiliger Mann war.»
«Wenn Sie das annehmen, Chief Inspector, so haben Sie mich mißverstanden. Er ist nichts dergleichen. Er ist lediglich jemand, der Ungenauigkeit, Nachlässigkeit und jede Form intellektueller Bramarbasiererei verabscheut und versucht, dagegen anzugehen.»
«Würden Sie es für möglich halten, daß er einen Brief abschickt oder sonstwie weiterleitet, der orthographische und grammatikalische Fehler enthält?»
Andrews schien über die Frage äußerst verblüfft. «Nein, auf keinen Fall. Er würde lieber sterben, als...»
«Nun, gestorben ist er ja nun tatsächlich. Wenn auch wohl nicht wegen eines inkorrekten Briefes.»
Andrews sah Morse einen Moment lang forschend an. «Sie sind sich wirklich sicher, daß er tot ist?»
«Ja», sagte Morse knapp, «wir haben gestern bei Thrupp seine Leiche aus dem Kanal geborgen.»
Andrews blickte ihn noch immer an. «Ich habe heute in der Oxford Mail gelesen, daß man im Kanal eine Leiche gefunden habe. Es hieß dort allerdings, der Mann sei noch nicht identifiziert.»
«Ach, wirklich?» sagte Morse und gab sich Mühe, überrascht zu klingen. «Aber Sie glauben doch auch sonst nicht alles, was in der Zeitung steht, oder?»
«Nicht alles, nein, aber das meiste schon», sagte Andrews und warf ihm einen prüfenden Blick zu, so daß Morse es vorzog, das Thema zu wechseln.
«Ich würde von Ihnen gern mehr über Dr. Browne-Smith erfahren», sagte er. «Befand er sich Ihrer Meinung nach in einem guten körperlichen Zustand — ich meine natürlich, seinem Alter entsprechend?»
Zum erstenmal schien Andrews mit der Antwort zu zögern. «Sie haben also auch schon davon gehört.»
«Nicht offiziell, es wurde nur gesprächsweise angedeutet, daß...»
Andrews starrte auf den Teppich. Er schien im Zwiespalt zu sein, ob er reden oder lieber schweigen solle. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte widerstrebend: «Da Sie das Wesentliche ja nun ohnehin schon erfahren haben, begehe ich wohl keinen Vertrauensbruch, wenn ich Ihnen noch weitere Einzelheiten mitteile. Der Grund, warum mir der Rektor überhaupt von seiner Besorgnis wegen der Abwesenheit von Dr. Browne-Smith erzählt hat, ist nämlich...» Er zögerte erneut, dann fuhr er fort: «Der Grund, wie ich schon sagte, ist, daß ich vorgesehen bin, seine Aufgaben zu übernehmen, wenn er dafür nicht mehr zur Verfügung steht.»
«Sie meinen, wenn er in den Ruhestand tritt?»
«Nein, ich fürchte, schon sehr viel früher. Man hat Ihnen gegenüber ja bereits erwähnt, daß er ein schwerkranker Mann ist — so hatte ich Sie eben
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