Das Rätsel der Fatima
Station, Schwestern, Patienten und sogar die Ärzte, hatten sie beglückwünscht und mit ihr gefeiert. Das war nun schon über zehn Jahre her. Was war von diesem Enthusiasmus und dem Gefühl, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, geblieben? Nicht viel. Sie machte ihren Job, und sie machte ihn wirklich gerne. Aber ebenso gut hätte sie in einem Kaufhaus arbeiten können. Vielleicht konnte sie Tolui davor bewahren, seine Begeisterung zu verlieren.
»Ich hoffe, dass ich dir eine gute Lehrerin sein werde. Aber du sollst auch wissen, dass du nicht sofort die Kranken behandeln wirst. Bevor du so weit bist, wird viel Arbeit auf dich zukommen, Tolui«, sagte Beatrice und dachte daran, dass dies der erste große Dämpfer gewesen war, den sie selbst im Studium erhalten hatte.
Zwei Jahre lang hatte sie sich nur mit in ihren Augen ziemlich langweiligen Grundlagen herumgeschlagen. Physik, Biologie, Chemie waren ihr tägliches Brot gewesen, bevor sie den ersten richtigen, lebendigen Patienten zu Gesicht bekommen hatte. Manchmal hatte sie sogar heimlich auf ihrem Studentenausweis nachgeschaut, um sicherzugehen, dass sie sich wirklich für Medizin eingeschrieben hatte. Aber schließlich brauchte sie sich hier in Taitu nicht an Studienpläne zu halten, es gab kein Physikum, keine Staatsexamen. Hier war sie ihr eigener Dekan an ihrer eigenen winzigen Universität. Sie konnte Toluis Lehrplan frei nach ihren eigenen Wünschen gestalten. Eine unglaubliche Chance, Fehler, die an ihr begangen wurden, wieder gut zu machen.
»Du wirst mich natürlich weiterhin ins Haus der Heilung begleiten«, fuhr sie fort. »Anfangs wirst du fast nur zusehen. Ich werde dir alles erklären, jeden einzelnen Handgriff. Und nach und nach wirst du immer öfter auch selbstständig arbeiten können. Weil es hier keine Bücher über die Heilkunde meiner Heimat gibt, werden wir uns jeden Abend nach der Arbeit zusammensetzen. Ich werde dir alles erzählen, was ich über den menschlichen Körper, seine Funktionen und seine Erkrankungen weiß. Du wirst dir alles merken müssen, denn hin und wieder werde ich dein Wissen und deine Fähigkeiten prüfen. Es wird anstrengend sein. Oft wirst du in der Nacht nur wenige Stunden schlafen oder gar ganz ohne Schlaf auskommen müssen. Du wirst deine Brüder und Freunde kaum noch sehen. Denn während sie ihre Jugend genießen und auf der Jagd die Umgebung durchstreifen, wirst du bei mir sein und lernen.«
Was redest du da eigentlich?, fragte sie sich. Der Junge will nicht für den Rest seines Lebens in ein Kloster eintreten, er will Medizin studieren.
Aber ganz so falsch war es nicht. Wenn sie zurückblickte, so hatte sie das Studium genauso empfunden – alle anderen feierten und genossen ihr Leben, während sie zu Hause saß und lernte. Medizin war ein reines Fleißstudium. Sie sah Tolui an.
»Bleibst du bei deiner Entscheidung?«
Tolui erwiderte ihren Blick. Seine grünen Augen leuchteten.
»Ja, Meister«, sagte er, ohne zu zögern. »Die Arbeit schreckt mich nicht. Ich möchte Arzt werden.«
Beatrice lächelte und reichte Tolui die Hand.
»Ich habe keine andere Antwort erwartet.« Das stimmte auch. Tolui war intelligent und fleißig. Er würde es schaffen. Aber was war mit ihr selbst? Würde sie auch in der Lage sein, die zusätzliche Arbeit einfach so wegzustecken? Wenn sie daran dachte, dass vor ihrer »Zeitreise« bereits zwei Überstunden am Tag sie unendlich viel Kraft gekostet hatten, bekam sie ihre Zweifel.
O Bea, warum hast du dir das nur wieder aufgehalst!
»Wenn es dir recht ist, Meister, können wir sofort mit dem Unterricht beginnen. Ich werde gleich…«
»Halt, Tolui«, sagte Khubilai und legte seinem Sohn beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Du wirst bis morgen warten. Morgen wird dein Unterricht beginnen, nicht heute.«
»Aber Vater, ich könnte doch gleich…«
»Du wirst dich in Geduld üben. Ein Tag macht keinen Unterschied.«
»Eben, Vater. Gerade deshalb könnte ich doch schon heute…«
»Du hast meine Worte gehört, mein Sohn«, unterbrach ihn Khubilai streng. »Und dabei bleibt es. Du darfst dich entfernen.«
Die Enttäuschung auf dem Gesicht des Jungen war so groß, dass er Beatrice leid tat. Aber dem Khan vor den Augen seines Sohnes und seines Bruders zu widersprechen, wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, selbst wenn sie gewollt hätte. Denn wenn sie ehrlich war, war sie so müde, dass sie an diesem Tag vermutlich ohnehin nicht die Kraft gefunden hätte, Tolui
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