Das Rätsel der Fatima
wir säßen jetzt nicht hier und würden über medizinische Erfolge reden.
Khubilai hob eine Augenbraue. »Wirklich? Das hätte jeder andere auch getan? Dann musst du in einem von den Göttern gesegneten Land geboren worden sein, Beatrice, denn hier in meinem Reich hat noch niemand vollbracht, was dir anscheinend mühelos gelungen ist.« Er lächelte freundlich. »Deine Bescheidenheit ehrt dich. Doch alles, was dem Wohlergehen meiner Untertanen förderlich ist, dient letztlich auch mir. Wer einem einzigen meiner Untertanen das Leben rettet, rettet dieses Reich.«
Wer einem einzigen Menschen das Leben rettet, rettet die Welt. So muss es heißen, dachte Beatrice.
Vermutlich hatte Khubilai dieses alte Sprichwort aus dem Talmud von einem der jüdischen Händler aufgeschnappt, von denen auch einige an seinem Hof lebten, und es sehr frei und nicht gerade bescheiden für sich interpretiert. Allerdings wäre ein Mann, der nicht seine eigene Person als Angelpunkt des Universums ansah, wohl kaum in der Lage gewesen, ein derart großes Reich zu regieren.
»Wie du siehst«, fuhr Khubilai fort, »schulde ich, der Khan, Herrscher über das Reich der Chinesen und Mongolen, dir Dank für die Errettung des Lebens von Jiang Wu Sun, Oberster Schreiber und Chronist an meinem Hof.«
» Beatrice, bitte, du weißt, dass ich…«, begann Tolui, doch der Khan fiel ihm ins Wort.
»Schweig, mein Sohn.«
»Aber Vater, ich wollte doch nur…«
»Ich weiß. Dennoch wartest du, bis dir die Erlaubnis zu sprechen erteilt wird, so wie es sich seit alters her gehört. Dies ist ein Gespräch unter Erwachsenen.« Streng sah Khubilai seinen Sohn an. Und Tolui schwieg. Allerdings merkte man ihm deutlich an, wie schwer es ihm fiel. »Verzeih ihm sein jugendliches Temperament, Beatrice, doch Tolui war von dem, was er gestern erleben durfte, so begeistert, dass er es kaum noch erwarten kann, seinen Wunsch zu äußern. Und so sehr ich auch seine Ungeduld verstehen kann, er wird noch etwas warten müssen.« Khubilai lächelte Beatrice wieder an. »Bevor wir über Tolui und seinen Wunsch reden, möchte ich dir eine Frage stellen. Das, was du gestern an dem Schreiber Jiang Wu Sun getan hast, war das Bestandteil der Heilkunde, wie du sie in deiner Heimat gelernt hast, oder handelte es sich um eine Eingebung, die du allein der Gnade der Götter verdankst?«
»Nein. Ich habe es in meiner Heimat gelernt«, antwortete Beatrice und fragte sich, worauf der Khan eigentlich hinauswollte. Wenn sie Tolui ansah, hatte sie eine vage Ahnung, um was es hier gehen könnte.
Khubilai lächelte breit, und irgendwie hatte Beatrice den Verdacht, dass er bereits jetzt davon ausging, dass sie ihm seine Bitte gewähren würde.
»Wenn das so ist, dann frage ich dich jetzt – gemäß dem Wunsch meines Sohnes Tolui: Wärst du bereit, Tolui als deinen Schüler in die Lehre zu nehmen, sein Meister zu werden und ihm deine Heilkunst und dein Wissen zu vermitteln?«
Obwohl Beatrice etwas in der Art erwartet hatte, war sie doch überrascht, als sie es mit eigenen Ohren hörte. Den Sohn des Khans zu unterrichten war eine große Ehre. Zu groß für eine Fremde wie sie. Gleichzeitig war es nicht ungefährlich. Denn sollte Tolui jemals versagen, würde nicht der Prinz zur Rechenschaft gezogen werden, sondern sie, seine Lehrerin. Dennoch fiel es ihr nicht ein, diese Bitte abzulehnen. Natürlich kam es einem Sakrileg gleich, dem Khan einen Wunsch abzuschlagen. Aber vor allem lag es an Tolui. Der Junge sah sie so voller Hoffnung, Ehrfurcht und Begeisterung an, dass sie nicht anders konnte als zuzustimmen.
»Gerne nehme ich Tolui als meinen Schüler an«, sagte sie. »Es wäre mir eine große Ehre.«
Tolui strahlte über das ganze Gesicht. Er machte den Eindruck, als würde er am liebsten aufspringen und alle, seinen Vater, seinen Onkel, Beatrice und die ganze Welt außerhalb des Palastes dazu, umarmen.
»Deine Zustimmung freut mein Herz – als Khan und noch mehr als Vater«, erwiderte Khubilai. »Nun, was hast du dazu zu sagen, mein Sohn?«
»Danke! Vielen Dank, ich…« Tolui stotterte fast vor Aufregung. »Ich habe es so herbeigesehnt, dass ich nun nicht weiß, was ich sagen soll.«
Beatrice war gerührt. In seiner grenzenlosen Freude und Begeisterung erinnerte Tolui sie an sich selbst. Als sie die Zulassung zum Medizinstudium erhalten hatte, hatte sie vor Freude geheult wie ein Schlosshund. Sie hatte damals ein Krankenpflege-Praktikum in einem Krankenhaus gemacht, und die ganze
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