Das Rätsel der Fatima
Dschinkim, dem Bruder und Thronfolger des großen Khans, auf der Jagd, als wir dich in der Steppe fanden. Du lagst mitten im Gras, der eisigen Kälte schutzlos ausgeliefert. Da es weit und breit kein Dorf und keine bekannte Karawanenstraße gibt, wussten wir nicht so recht, was wir mit dir anfangen oder wo wir dich hinbringen sollten. Deshalb haben wir beschlossen, dich nach Shangdou mitzunehmen. Und hier bist du jetzt – im Palast des großen und mächtigen Khubilai Khans.«
Beatrice schluckte. Also doch. Sie war sozusagen mitten in die Seiten eines Geschichtsbuchs katapultiert worden. Marco Polo, Khubilai Khan – das klang zu fantastisch, um wahr zu sein. Das war noch weniger vorstellbar, als Avicenna persönlich zu begegnen. Und doch lag sie hier, auf diesem chinesischen Bett, und sprach mit einem Mann, der von sich behauptete, Marco Polos Onkel zu sein. Das war verrückt.
»Wisst ihr, wie ich dorthin gekommen bin?«, fragte sie, als sie sich einigermaßen von dieser Nachricht erholt hatte.
»Wissen? Nein.« Maffeo schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber jeder von uns dreien hat seine eigene Meinung darüber, wie eine vornehm gekleidete, europäisch aussehende schwangere Frau dorthin kommt, wo wir dich gefunden haben. Dschinkim glaubt an Zauberei, an das Werk von Dämonen. Und Niccolo vermutet, du seist eine Dame aus dem Gefolge des großen Khans und bist entweder geflohen oder aber von Sklavenhändlern geraubt worden.«
Maffeo schüttelte lächelnd den Kopf. Anscheinend hielt er selbst wenig von diesen Vermutungen.
»Und du, Maffeo?«, fragte Beatrice. »Was glaubst du?«
Gespannt wartete sie auf die Antwort. Ihr Herz klopfte, und nervös verschränkte sie ihre Hände, damit Maffeo nicht merkte, wie stark sie zitterten. Aus irgendeinem Grund lag ihr an seiner Meinung.
Vielleicht, dachte sie, weil er so nett und väterlich zu mir ist. Deshalb will ich wissen, was er über mich denkt. Aber dass dies der einzige Grund war, daran mochte selbst sie nicht glauben.
Maffeo sah sie lange an. Unter diesem Blick fühlte sich Beatrice durchsichtig wie Glas oder wie ein Brustkorb, der zur Tuberkulose-Vorsorge durchleuchtet wurde. Seine Augen hatten die Kraft von Röntgenröhren. Sie war sicher, wenn es irgendwo in ihrer Seele einen verborgenen dunklen Punkt gab, einen Schatten, von dessen Existenz nicht einmal sie selbst etwas ahnte, Maffeo würde ihn entdecken. Mit einem Blick ähnlich wie diesem musste Jesus Judas Iskariot beim letzten Abendmahl bedacht und seinen Verrat erkannt haben, noch bevor Judas selbst davon gewusst hatte.
Wortlos und ohne den Blick auch nur den Bruchteil einer Sekunde von ihr zu wenden, steckte Maffeo seine Hand in eine Tasche seines Obergewands und holte einen Gegenstand heraus. Nur mit großer Mühe riss Beatrice sich von dem Ausdruck seiner Augen los. Sie sah nach unten und erstarrte. Der Raum begann wieder, sich um sie herum zu drehen, eine unsichtbare Hand hob ihr Bett in die Luft und ließ es inmitten des Wirbels schweben, ihr stockte der Atem. Auf Maffeos Handfläche lag, klar und blau und ruhig wie ein Hochgebirgssee, ihr Saphir, der Stein der Fatima.
»Wie…«, brachte Beatrice mühsam hervor, als sie irgendwann, vermutlich nach Stunden, ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Woher hast du den Stein, und…«
»Lass uns nicht jetzt darüber reden«, unterbrach Maffeo sie, legte den Saphir in ihre Hand und drückte sie behutsam zu. »Wir haben noch viel Zeit. Sehr viel Zeit. Jetzt solltest du dich ausruhen.« Er erhob sich und ging zur Tür. »Sobald die Kräuter eingetroffen sind, werde ich dir deine Medizin bringen. Solltest du in der Zwischenzeit einen Wunsch haben, so brauchst du nur zu rufen oder in die Hände zu klatschen. Die alte Ming, eine meiner chinesischen Dienerinnen, weiß Bescheid und hat die Anweisung, deine Befehle entgegenzunehmen und unverzüglich auszuführen. Aber du musst ein wenig Geduld mit ihr haben. Sie ist alt und schon recht starrköpfig. Außerdem ist ihr Arabisch nicht besonders gut. Das führt leider immer wieder zu Missverständnissen, die zwar manchmal recht amüsant, meistens jedoch sehr ärgerlich sind.«
Maffeo verließ das Zimmer. Beatrice sah ihm verwundert nach. Dann wanderte ihr Blick zu dem Stein der Fatima. Er lag auf ihrer Handfläche und leuchtete, als hätte jemand in seinem Inneren ein Feuer entfacht. Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen über die vertrauten Rundungen. Ob Maffeo ahnte, dass dieser Saphir die Ursache dafür war, dass
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