Das Rätsel der Fatima
sie mitten in der mongolischen Steppe gelegen hatte? Ob er sich vorstellen konnte, dass sie nicht nur aus Europa, sondern sogar aus einer anderen Zeit hierher gekommen war?
Nein, korrigierte sie sich und dachte an den Ausdruck seiner braunen Augen. Maffeo ahnt es nicht, er weiß es.
Schritte. Schritte und Stimmen. Jemand war in ihrem Zimmer. Beatrice zuckte zusammen und setzte sich im Bett auf. Sie fühlte sich seltsam benommen und zerschlagen, und ihre Zunge klebte am Gaumen, als hätte sie seit vielen Stunden nichts getrunken. Als sie Maffeo sah, erschrak sie. War er so schnell wieder zurückgekommen? Aber er war doch eben erst aus dem Zimmer…
Sie hatte Hunderte von Fragen, die sie Maffeo stellen wollte. Fragen, die sie nicht ohne Weiteres stellen durfte, nicht hier, nicht im Mittelalter. Wenn auch nur der geringste Verdacht bestand, dass sie aus einem anderen Zeitalter stammte, würde sie mit Sicherheit als Hexe verurteilt und brennend auf dem Scheiterhaufen enden. Zumindest in Europa würde es ihr so ergehen. Wie jedoch die als grausam geltenden Mongolen unter Khubilai Khan mit Hexen und Besessenen umgegangen waren, wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen. Was die Geschichtsbücher über ihn und seine Nachfolger zu berichten wussten, übertraf die Gräuel des europäischen Mittelalters noch bei Weitem. Wenn die Mongolen erst mit ihrer Folter begonnen hatten, würde sie sich vermutlich sogar nach dem Scheiterhaufen sehnen. Um dieses Risiko zu vermeiden, hatte sie sich eigentlich vorgenommen, sich bis zu Maffeos Rückkehr alle Fragen genau zurechtzulegen. Sie wollte ihm nicht mehr über sich erzählen, als er unbedingt wissen musste, und ihm mit keinem Wort, keiner Formulierung einen Verdachtsmoment liefern. Doch nun stellte sie fest, dass sie nicht weit damit gekommen war. Beatrice konnte sich noch daran erinnern, dass ihr das Sitzen im Bett unbequem geworden war. Deshalb hatte sie sich zum Nachdenken hingelegt und war wohl kurz darauf eingeschlafen. Jetzt stand Maffeo lächelnd vor ihr, und sie wusste nicht, womit sie beginnen sollte.
»Deine Arznei, Beatrice«, sagte Maffeo und reichte ihr eine schöne Schale aus grünem Porzellan mit einer dampfenden Flüssigkeit.
Dies war wohl Li Mu Bais geheimnisvolle Rezeptur. Zögernd nahm Beatrice die Schale entgegen. Wie aus heiterem Himmel und völlig unpassend fielen ihr in diesem Moment alle Artikel ein, die sie jemals in der Boulevardpresse über die abstrusen Arzneimischungen der Ärzte der traditionellen chinesischen Medizin gelesen hatte; ein seltsames Sammelsurium an Kräutern, Pilzen und vielen anderen Ingredienzien, das eher an eine mittelalterliche Hexenküche denn an eine seriöse medizinische Wissenschaft erinnerte. Schon allein beim Lesen konnte sich einem der Magen umdrehen. Mit Grausen dachte sie jetzt an die Schilderungen von zerstoßenen Nashornhörnern und Tigerhoden, Seepferdchen und Heuschrecken, Käferpanzern und Muschelschalen. Sogar der Urinstein von Bären wurde in manchen dieser Rezepte verwendet. Argwöhnisch betrachtete sie das trübe, fast schwarze Gebräu in ihrer Tasse. Doch von Käfern, Seepferdchen und ähnlich abscheulichen Zutaten konnte sie nichts entdecken.
Nun, vermutlich hat man alle festen Bestandteile nach dem Kochen wieder herausgefiltert, dachte Beatrice. Ich soll das Zeug schließlich trinken und nicht kauen.
Trotzdem konnte sie sich nicht dazu entschließen, den Tee zu probieren. Im Ärzteblatt hatte vor einiger Zeit etwas über chinesische Arzneikräuter gestanden. Sie hatte den Artikel damals nicht gelesen, da sie sich für diese »paramedizinischen Randgebiete«, wie ihr Kollege Thomas die Naturheilverfahren immer bezeichnete, nicht interessierte. Aber jetzt glaubte sie sich daran zu erinnern, dass es um Leber- und Nierenschäden nach dem Genuss von chinesischen Arzneikräutern gegangen war. Eine nicht gerade beruhigende Vorstellung – schon gar nicht, wenn man schwanger war.
»Trink, auch wenn es dir schwer fällt«, sagte Maffeo und lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich weiß, wie schwierig es ist, sich an den seltsamen Geruch und Geschmack zu gewöhnen. Aber es sind gute Arzneien, das kannst du mir glauben. Auch mir haben Li Mu Bais Rezepturen schon oft geholfen. Außerdem, so lässt dir der Meister sagen, sollst du den Aufguss möglichst heiß trinken, damit dein Chi wieder zum Fließen angeregt wird. Also trink!«
Beatrice sah Maffeo zweifelnd an. Natürlich glaubten die Leute hier an die Wirksamkeit ihrer
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