Das Rätsel der Fatima
reinigender Regen spülten die Tränen alles aus ihr heraus, was sie in der letzten Zeit belastet hatte. Der Streit mit Markus, die Angst wegen der vorzeitigen Wehen, der Stress im Krankenhaus, die Furcht vor der Verantwortung, die bald auf sie zukommen würde und die sie allein würde tragen müssen, die Sorgen wegen einer unklaren Zukunft. Alles löste sich auf. Wie Schnee, der im Frühjahr in den Bergen schmolz und die Bäche zu reißenden Strömen anschwellen ließ, bis schließlich nur noch reines, klares Wasser über die Steine plätscherte. Nach einer Weile konnte Beatrice nicht mehr sagen, weshalb sie überhaupt noch weinte. Trotzdem hörte sie nicht damit auf. Es tat einfach gut. Und das lag nicht zuletzt an der väterlichen Güte und Wärme, die dieser freundliche Mann ausstrahlte.
Beatrice hörte, dass sich die Tür öffnete. Eine leise Stimme sagte etwas, und Maffeo antwortete in der seltsamen Sprache, die er auch vorhin benutzt hatte. Beatrice sah nicht auf. Erst als sich Schritte näherten und eine Hand, sanft und leicht wie eine Feder, ihre Schulter berührte, hob sie den Kopf.
Neben Maffeo stand ein asiatisch aussehender Mann. In seinem bodenlangen orangefarbenen Gewand wirkte er noch schmaler und kleiner als Maffeo, obwohl die beiden, objektiv betrachtet, gleich groß waren. Sein Kopf war kahl geschoren, und sein Gesicht war jugendlich glatt, sodass Beatrice sein Alter nicht schätzen konnte. Allerdings verrieten die feinen Linien um Mund und Augen, dass er kein junger Mann mehr war. Er musste mindestens fünfzig Jahre alt sein, ebenso gut konnte er aber auch auf die hundert zugehen. Der Mann lächelte. Es war ein Lächeln voller Gelassenheit, Heiterkeit, Wärme und Güte. Seine braunen Augen leuchteten vor Weisheit und Liebe. Und noch bevor er ein Wort gesagt hatte und Beatrice seinen Namen kannte, wusste sie, dass diesem Mann Bosheit, Neid und Habsucht fremd waren. Ein ehrfürchtiger Schauer lief ihr den Rücken hinunter. In diesem Raum, so nah, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um sein Gewand zu berühren, stand das Gute leibhaftig vor ihr und lächelte sie an.
»Dies ist Li Mu Bai«, erklärte Maffeo, Ehrfurcht und Freude schwangen in seiner Stimme mit. »Er hat dich bereits gestern Abend untersucht und behandelt. Er ist hier, um nochmals nach dir zu sehen.«
»Ist er ein Arzt?«, fragte Beatrice und kam sich ziemlich dumm vor. Natürlich, wenn er sie untersucht hatte, musste er ein Arzt sein. Aber sie konnte nicht begreifen, dass dieser Mensch so einen profanen, alltäglichen Beruf ausübte. Hätte Maffeo gesagt, dies sei der Dalai Lama oder gar Gautama Buddha selbst, sie wäre weniger überrascht gewesen.
»Ja«, antwortete Maffeo. »Aber Li Mu Bai ist nicht nur Arzt. Er ist außerdem ein Gelehrter, ein Weiser, dem die Lehren Buddhas vertraut sind und der…«
»Wer oder was ich bin, ist nicht von Bedeutung«, unterbrach der Arzt Maffeo lächelnd – auf Arabisch, eine weitere Geste seiner Freundlichkeit, denn Beatrice hörte deutlich, dass ihm diese Sprache nicht geläufig war. Er sprach langsam und mit starkem Akzent, und sowohl sein Satzbau als auch seine Wortwahl waren umständlich. »Allein, was ich für dich tun kann, ist wichtig. Wie fühlst du dich?«
»Recht gut«, stammelte Beatrice und fragte sich, ob sie sich verbeugen oder den Arzt mit »Meister« oder einem anderen Ehrentitel ansprechen sollte.
»Du hast geweint?«, fragte er weiter.
»Ja«, antwortete Beatrice und spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete. Hastig wischte sie ihre nassen Wangen trocken. »Es brach ganz plötzlich aus mir heraus. Und dann konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Die Tränen liefen und liefen und ich…«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Li Mu Bai mit seinem sympathischen Akzent und lächelte freundlich. Beatrice hätte ihm stundenlang zuhören können. »Es ist sehr gut, dass du geweint hast. Tränen sind ein Zeichen, dass sich die innere Kälte und Erstarrung, unter der du gelitten hast, auflöst und dein Chi wieder zu fließen beginnt.« Ein fröhliches Funkeln trat in seine Augen. »Mein Lehrer, der weise und verehrungswürdige Li Yue, pflegte zu sagen: Tränen sind das Schmelzwasser, das im Frühjahr die Berge hinunterfließt.«
Beatrice starrte den Arzt verblüfft an. Hatte sie laut gedacht? Oder weshalb wählte er denselben Vergleich, der ihr vorhin auch in den Sinn gekommen war? Konnte dieser Mann Gedanken lesen? Oder war es etwa ein Zufall, ein
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