Das Rätsel der Fatima
Heimat und dem Emir und dem ganzen Zeug. Aber das waren ihre Worte. Wo ist dieses Land, das angeblich ihre Heimat ist? Ich kenne es nicht. Du etwa? Es könnten ebenso gut Lügen gewesen sein.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »In spätestens zwei Tagen kehrt mein Bruder aus Taitu zurück, und du weißt, was das bedeutet. Ich darf kein Risiko eingehen.«
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Maffeo. »Willst du sie etwa so lange einsperren, bis der große Khan Shangdou wieder verlässt? Das kann unter Umständen bis zum Frühjahr dauern.«
Dschinkim schüttelte den Kopf. »Nein. Wie ich schon sagte, glaube ich dir, dass sie jetzt keine Gefahr darstellt. Aber du wirst für sie bürgen, mein Freund. Mit deinem Leben.«
»Gut, ich…«
»Ich weiß, auch du verbirgst ein Geheimnis, Maffeo Polo«, unterbrach ihn Dschinkim. »Und vielleicht teilt diese Frau das Geheimnis mit dir?«
Maffeo schluckte. Unter dem Blick des Mongolen wurde ihm der Kragen eng. Was wusste Dschinkim? Hatte er schon vom Stein der Fatima gehört? Wusste er, dass Maffeo einen besaß? Hatte er doch in der Steppe den Saphir in der Hand von Beatrice gesehen? Maffeo kämpfte mit sich. Sollte er Dschinkim vom Stein der Fatima erzählen? Auf der einen Seite war der Stein, für dessen Sicherheit er sich verbürgt hatte, auf der anderen Seite stand eine Freundschaft, die ihm viel bedeutete, sehr viel sogar.
Weshalb nur hat Lama Phagspa ausgerechnet mir diese Verantwortung aufgebürdet?, dachte Maffeo verzweifelt, während er versuchte, beides gegeneinander abzuwägen.
»Ich dachte immer, du vertraust mir«, sagte er schließlich.
Er hatte sich bereits entschieden. Es gab Dinge, die wichtiger waren als Sympathie, Freundschaft oder sogar ein Leben.
»Du hast dich nicht getäuscht«, sagte Dschinkim. »Ich vertraue dir, mein Freund. Ich vertraue dir mehr als allen anderen Männern im Gefolge des großen Khans. Trotzdem bin ich kein Narr. Ich denke nicht nur über das nach, was ich höre und sehe, sondern auch darüber, was ich nicht höre und sehe.« Er legte Maffeo eine Hand auf die Schulter und lächelte. »Bewahre dein Geheimnis, alter Freund und Jagdgefährte, bewahre es gut. Ich will es dir nicht nehmen. Doch gib acht, dass es meinem Bruder nicht gefährlich wird.«
Maffeo sah Dschinkim an. Er war mehr als nur erleichtert. Tränen traten in seine Augen, Tränen, derer ein Mann sich nicht zu schämen brauchte. Dschinkim würde es verstehen. Er legte seine Hand auf die des Mongolen und drückte sie.
»Du kannst dich auf mich verlassen, Dschinkim, mein Freund und Jagdgefährte«, sagte er. »Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist.«
6
»Ich komme wieder, sobald ich kann«, hatte Maffeo gesagt. Doch anscheinend wurde er an der Erfüllung dieses Versprechens gehindert, denn den ganzen Tag lang bekam Beatrice ihn nicht mehr zu Gesicht. Vielleicht hatte der Mongole ihm den Kontakt mit ihr verboten? Beatrice starrte aus dem Fenster, dann wieder ging sie ruhelos in dem Zimmer auf und ab. Ihre Gedanken kreisten um all jene Fragen, die sie Maffeo noch stellen wollte – und um seine möglichen Antworten. Schließlich hielt sie diese innere Spannung nicht mehr aus. Wenn sie schon allein bleiben musste, konnte sie wenigstens Li Mu Bais Ratschlag befolgen und einen Spaziergang machen. Bewegung und frische Luft würden ihr sicher gut tun. Und es würde sie auf andere Gedanken bringen.
Nach dem Mittagessen, das wieder aus Reis und Gemüse bestanden hatte, beschloss Beatrice, auf Entdeckungstour zu gehen. Nachdem Ming sie verlassen hatte, öffnete sie die Tür und trat hinaus auf einen Gang, der um einen runden Innenhof herumführte. Zierliche Säulen aus hellem Marmor trugen das weit überhängende Dach, sodass man selbst bei schlechter Witterung trockenen Fußes von einer Seite des Hauses zur anderen gehen konnte. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Kreuzgang eines katholischen Klosters. Zahlreiche Diener, die meisten von ihnen Chinesen, eilten geschäftig hin und her. Sie trugen Krüge, Wäsche, Körbe mit Obst und Gemüse oder hatten ihre Hände sittsam in den weiten Ärmeln ihrer Hemden verborgen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als hätten sie alle ein Schweigegelübde abgelegt. Oder hatte man ihnen verboten, miteinander zu sprechen? Beatrice blieb stehen und sah dem stummen Treiben einen Augenblick zu.
Die Diener huschten an ihr vorbei, als wäre sie nicht vorhanden. Keiner von ihnen schien sie zu bemerken. Dann ging sie
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