Das Rätsel der Fatima
anderen hatten den Saal durch die schmalen Seiteneingänge betreten. Der Gong wurde erneut geschlagen, als der Kaiser seinen Fuß über die Schwelle des Thronsaals setzte, und gleich darauf wieder. Während des ganzen Weges des Kaisers zu seinem Thron wurde der Gong geschlagen. Der erhabene, metallische Klang summierte sich und schwoll zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an. Nicht nur die Luft, sogar der Boden und das Kissen, auf dem Beatrice kniete, vibrierten. Die Schwingungen setzten sich in ihrem Körper fort, bis sie die Gongschläge in jedem einzelnen Knochen spürte. Die Gänsehaut, das Schauern und Beben, ja sogar Angst, die der dröhnende, tiefe Klang des Gongs verursachte, waren sicherlich in der Lage, selbst den hartnäckigsten Abtrünnigen und Rebellen dazu zu bringen, sich vor dem Kaiser zu Boden zu werfen. Dieses Gefühl erinnerte an Ehrfurcht. Ehrfurcht, die man vielleicht angesichts eines Menschen wie den Dalai Lama oder Buddha empfinden konnte. Doch hatte sie vor Khubilai Khan Ehrfurcht? Nein. Sie kannte ihn schließlich gar nicht. Von ihrem Platz aus, hinter den Rücken der Männer und mit dem zu Boden gerichteten Gesicht, hatte sie den Kaiser noch nicht einmal sehen können. Menschen, denen die physikalischen Zusammenhänge von Schallleitung und Vibrationen jedoch nicht bekannt waren, mussten angesichts ihrer starken Empfindungen glauben, allein die Anwesenheit des Kaisers würde sie erzittern lassen, so wie der Boden, auf dem sie knieten, unter jedem seiner Schritte bebte. Der Kaiser als Gesandter – oder sogar Sohn? – der Götter. Hier konnte man daran glauben. Vermutlich wusste keiner der hier Anwesenden, worum es sich wirklich handelte. Das Ganze war eine genial durchdachte Inszenierung. Nichts weiter.
Endlich hatte der Kaiser seinen auf einem hohen Podest stehenden Thron erreicht, und der Gong verstummte. Neben ihm, an seiner linken Seite, nahm die Kaiserin Platz. Und bis der letzte Ton verklungen war, hatte jeder der Söhne und Töchter des großen Khans, alles in allem ein Gefolge von mindesten einhundert Menschen, seinen Platz eingenommen. Von seinem Thron aus war Khubilai Khan nicht nur für jeden im Saal sichtbar, sondern er konnte natürlich auch die Menschenmenge bestens überblicken.
Der Gong wurde erneut geschlagen. Wie Maffeo erklärt hatte, war dies das Zeichen, dass der Kaiser gut gestimmt war und die Untertanen sich wieder vom Boden erheben durften. Jeder vollführte nun nach einem überaus komplizierten Ritual eine Drehung, sodass der Kaiser die Gesichter aller Untertanen sehen konnte.
Beatrice hatte diese Drehung den ganzen letzten Abend heimlich geübt. Doch in dem steifen Festgewand war es eine Tortur. Sie befürchtete, dass ihre Ungeschicklichkeit die Aufmerksamkeit aller erregen würde, und fühlte schon die missbilligenden, strengen und verächtlichen Blicke auf sich ruhen. Als sie es endlich geschafft hatte, warf sie Maffeo einen nervösen Blick zu. Er lächelte und nickte. Hatte er nichts bemerkt, oder wollte er sie nur aufmuntern und trösten? Doch als sie sich heimlich, mit mikroskopisch kleinen Bewegungen des Kopfes umsah, stellte sie fest, das niemand in ihrer Nähe sie zu beachten schien. Entweder hatte sie sich doch nicht so ungeschickt angestellt, wie sie gedacht hatte, oder sie war eine zu unwichtige Person, um ihr Beachtung zu schenken.
Beatrice atmete erleichtert auf und entspannte sich ein wenig. Dann richteten sich ihre Augen wieder auf den jungen Europäer. Er sah sie an, hob anerkennend eine Braue und lächelte. Beatrice wandte hastig ihren Blick ab und sah starr nach vorne zum Thron.
Es reicht!, dachte sie und merkte, wie ihre anfängliche Verlegenheit dem Zorn wich. Auf den Arm nehmen kann ich mich selbst.
Ein Mann mit kahl geschorenem Kopf trat vor den Thron, entrollte ein Pergament oder etwas Ähnliches und begann vorzulesen.
Das ist kein Pergament, das ist Papier, richtiges, echtes Papier, schoss es Beatrice durch den Kopf. Natürlich, die Chinesen hatten bereits zu Marco Polos Zeiten das Papier erfunden. Sie hatten sogar schon Papiergeld im Umlauf.
Einige Männer traten vor, gingen zur untersten Stufe des Throns, warfen sich dort auf die Knie und trugen, so vermutete Beatrice, ihr Anliegen vor. Manchmal nickte der Kaiser nur, manchmal schüttelte er den Kopf, manchmal sagte er auch einige, wenige Worte. Doch wie seine Reaktion auch ausfiel, jede wurde von einem Schreiber, einem dicken, einem Sumo-Ringer ähnlichen Mann, der abseits des
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