Das Rätsel der Fatima
Throns an einem niedrigen Tisch saß, mit Pinsel und schwarzer Tinte festgehalten.
Beatrice verstand natürlich kein Wort. Und da der junge Europäer es immer wieder fertig brachte, sie anzusehen, obwohl er einige Reihen vor ihr saß, widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit der kaiserlichen Familie.
Die Kaiserin wirkte überraschend jung und sah aus wie eine zierliche Porzellanfigur. Sie verschwand fast unter der schweren kaiserlichen Robe. Dennoch trug sie das steife Gewand mit einer Anmut, um die Beatrice sie nur beneiden konnte. Sie selbst ächzte unter dem Gewicht der Kleidung. Doch diese kleine zierliche Frau ließ sich nichts davon anmerken. Sie blickte regungslos mit leicht versonnenem Lächeln in die Unendlichkeit, als würden die Menschen zu ihren Füßen sie ebenso wenig interessieren wie das Gewicht des Festgewands, das auf ihre Schultern drückte. »Regungslos und schweigsam, wie eine Statue« – die Kaiserin beherrschte diese Rolle perfekt. Sie war ein Wunder an Disziplin und Selbstbeherrschung, ein Vorbild für jede Frau. Beatrice dachte an Ming. Das Herz der alten Chinesin würde sicherlich höher schlagen. Dieses Ausmaß an Vollkommenheit war ein Angriff auf das Selbstbewusstsein jeder Frau, die nur aus Fleisch und Blut bestand und nicht aus dem Stoff, aus dem man Kaiserinnen machte. Beatrice spürte, wie sich das Gefühl der Unzulänglichkeit in ihr breit machen wollte. Sie versuchte, sich immer wieder zu sagen, dass diese Frau wohl kaum in der Lage war, eine Appendizitis zu diagnostizieren, ein künstliches Hüftgelenk einzusetzen oder einem Menschen mit einer Leber- und Milzruptur nach einem schweren Verkehrsunfall das Leben zu retten. Und vermutlich hatte sie noch nie Wäsche gewaschen, gekocht und geputzt und – so ganz nebenbei – auch noch für ihren Lebensunterhalt gearbeitet. Wahrscheinlich war sie seit ihrer Geburt auf die Rolle der Kaiserin vorbereitet worden. Und auch wenn sie darin gut war, so war es noch lange kein Grund, selbst Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln. Es war ihr Job, sie war Kaiserin, Beatrice war Chirurgin. Doch all diese durchaus vernünftigen Argumente halfen nichts. Sie fühlte sich bedeutungslos, unbrauchbar, wertlos und hässlich, je länger sie die junge Kaiserin betrachtete. Das war bereits die zweite Niederlage für ihr Ego an diesem Abend.
Wenn das so weitergeht, fange ich noch an zu heulen, dachte Beatrice und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit von der Kaiserin auf Dschinkim zu lenken, der direkt unterhalb des kaiserlichen Ehepaares seinen Platz eingenommen hatte.
Auch er saß mit fast unbewegtem Gesicht auf seinem Stuhl. Allerdings drückte seine Miene nicht die Gelassenheit und Gleichgültigkeit der Kaiserin aus. Sein markantes Gesicht war finster. Und obgleich er den Kopf nicht oder nur wenig bewegte, huschten seine Blicke zwischen den Untertanen hin und her, als würde er in jedem von ihnen einen potenziellen Attentäter vermuten. Es war der Blick eines Jägers, der nur darauf wartet, dass seine Beute ihre Tarnung preisgibt, um sich dann mit lautem Geheul auf sie stürzen und sie erlegen zu können.
Wehe dem, der eine falsche Bewegung macht oder ein unbesonnenes Geräusch von sich gibt, dachte Beatrice und erinnerte sich mit Schaudern an das Gefühl des eiskalten Dolches an ihrem Hals. Wer die Möglichkeit hatte, sollte Dschinkim besser aus dem Weg gehen.
Dann wandte sie ihren Blick dem großen Kaiser selbst zu.
Khubilai Khan saß aufrecht auf seinem Thron. Graues lockiges Haar schaute unter seiner hohen kaiserlichen Haube hervor, sein Gesicht zierte ein grauer, aber gepflegt aussehender Schnurrbart. Aufmerksam hörte er denjenigen zu, die ihm ihre Anliegen vortrugen, dachte kurz nach und gab dann seine Antwort. Nicht wie der wilde Mongole, als den Beatrice sich Khubilai Khan immer vorgestellt hatte, sondern so gemessen und würdevoll, wie es von einem Kaiser erwartet wurde. Jeder der Untertanen war offenbar zufrieden. Und doch hatte Beatrice den Eindruck, dass sich Khubilai insgeheim langweilte. Manchmal, so schien es wenigstens, konnte er ein Gähnen nur mühsam unterdrücken.
Endlich war die Audienz beendet. Der Kaiser erhob sich von seinem Thron und stieg mit der Kaiserin das Podest hinunter. Der Gong wurde erneut geschlagen, die Versammelten warfen sich auf den Boden, alles bebte und zitterte und verharrte in dieser Stellung, bis Khubilai Khan den Thronsaal verlassen hatte und die riesigen Flügeltüren wieder geschlossen worden waren. Erst
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