Das Rätsel der Fatima
einer schmalen Kerze die Bücher mit den Bilanzen zu finden, dachte er über Jiang Wu Sun nach. Was trieb der dicke Schreiber hier in der Schreibstube mitten in der Nacht? Es war unwahrscheinlich, dass Jiang Wu Sun freiwillig nachts arbeitete, um das, was bei Tage nicht erledigt werden konnte, nachzuholen. Die Chinesen waren bekannt dafür, dass sie sich nicht gerade ein Bein für ihren mongolischen Herrscher ausrissen. Also welches Geheimnis verbarg er?
Erst vor Kurzem hatte jemand Ahmad erzählt, dass die Chinesen heimlich die Bücher fälschten – die Berichte über die siegreichen Schlachten Khubilai Khans, die Erfolge seiner politischen Maßnahmen. Sie entstanden im Auftrag des Herrschers und waren gedacht als Zeugnis einer glorreichen Epoche für die Nachwelt. Es war eigentlich nur ein Gerücht, und Ahmad konnte sich auch nicht so recht vorstellen, was die Chinesen damit bezweckten. Weshalb sollten sie den Aufwand betreiben und sich der Gefahr der Entdeckung aussetzen, nur um Khubilai Khan in einem schlechten und sich selbst in einem guten Licht erscheinen zu lassen? Das war kindisch. Aber die Chinesen waren in allem, was sie taten, merkwürdig. Also war ihnen auch das zuzutrauen.
Endlich fand Ahmad, was er gesucht hatte. Der Schrank, vor dem er stand, war angefüllt mit Bambusrohren, die das Zeichen des Handels trugen. Es mochten wohl an die hundert Rohre sein. Ahmad seufzte. Doch Zögern half nicht, die Arbeit musste getan werden. Wenn erst die Bibliothek von Shangdou auf Pferderücken und Ochsenkarren verladen war, würde es ihm nicht mehr möglich sein, an die wichtigen Schriftstücke heranzukommen. Und dann war die Gefahr groß, dass man die verräterischen Beweise fand, die ihn mehr kosten konnten als nur sein Amt als Finanzminister. Der Verdacht war bereits da, die Spürhunde waren ihm schon auf den Fersen. Der Venezianer hatte ihm alles erzählt…
Ahmad zog das erste Rohr hervor und öffnete den Korken. Irgendwann würde er sich um Jiang Wu Sun kümmern, dafür sorgen, dass der fette Schreiber seinen Mund hielt. Aber nicht jetzt. Jetzt lag noch eine lange, arbeitsreiche Nacht vor ihm.
Beatrice träumte. Sie befand sich in einem riesigen Raum, einer Halle oder Kathedrale nicht unähnlich. Dieser Raum oder Saal war so hoch, dass sie das steinerne Deckengewölbe nur erahnen konnte. Mit leichten Schritten glitt sie über den Boden. Sie schwebte dahin, die Falten ihres knöchellangen luftigen Kleides bauschten sich um sie und streiften ihre Beine. Ich tanze!, dachte sie erstaunt. Ich tanze. Aber wo ist die Musik?
Da hörte sie plötzlich wie aus weiter Ferne spanische Gitarrenklänge. Irgendjemand spielte Flamenco. Und zu ihrer eigenen Überraschung merkte sie, dass sie tatsächlich Flamenco tanzte – und das gar nicht mal schlecht. Flamenco! Ausgerechnet sie! Dabei war sie weder eine begeisterte noch eine gute Tänzerin.
Aber Träume haben zum Glück ihre eigenen Gesetze, dachte Beatrice und genoss die Leichtigkeit, die Eleganz und die Leidenschaft, mit der sie sich zur Musik bewegte, sich drehte, mit den Füßen aufstampfte, den Kopf in den Nacken und zur Seite warf. Sie glitt dahin und umrundete die mächtigen Säulen aus dunklem Granit, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan als Flamenco zu tanzen. Sie raffte ihr Kleid mit einer Hand über der Hüfte, während sich die andere Hand am hoch erhobenen Arm mit der Geschmeidigkeit einer Schlange wand. Sie hörte bewunderndes Raunen, das Klatschen von Händen im Rhythmus der Musik und dem Klopfen und Klappern ihrer Absätze. Es waren viele, sehr viele Hände. Offensichtlich hatte sie eine Menge Zuschauer, obwohl sie im Halbdunkel und den Schatten der Säulen nicht zu erkennen waren. Nur manchmal, wenn sie dicht an ihnen vorbeitanzte, fühlte sie die Wärme ihrer Körper, und sie spürte, dass sie versuchten ihr Kleid zu berühren.
Beatrice genoss die Aufmerksamkeit, sie genoss die Bewunderung, und gleichzeitig war es ihr egal. Es gab nur sie, sie war der Mittelpunkt der Welt. Dieser Tanz war ihr Leben, die Gitarren erzählten ihre Geschichte, der Rhythmus war ihr Herzschlag. Alles andere war unwichtig.
Sie tanzte um eine der Säulen herum und wurde plötzlich von zwei starken Armen aufgefangen. Vor ihr stand ein Mann, gekleidet wie ein spanischer Stierkämpfer. Allerdings war seine Kleidung schwarz, sogar die breite Schärpe um Bauch und Hüften war schwarz. Er trug eine dunkle Augenmaske und hatte den breitkrempigen Hut tief ins
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