Das Rätsel der Fatima
angewöhnt, überaus vorsichtig zu sein und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, bevor es seinen Mund verließ. Trotzdem konnten selbst dem Vorsichtigsten manchmal Fehler unterlaufen.
Mit einer kurzen, trainierten Bewegung legte Ahmad seinen langen dunklen Umhang über die Schultern zurück. Jetzt hatte er nicht nur mehr Bewegungsfreiheit, sondern außerdem Zugriff zu allen sichtbaren und unsichtbaren Waffen, die an seinem Gürtel hingen. Grimmig biss er die Zähne zusammen. Wer auch immer ihm in der Schreibstube auflauerte, würde mit einem harten Kampf rechnen müssen.
Leise öffnete er die Tür und schob sich geschickt durch den schmalen Spalt. Die Schreibstube lag fast in völliger Finsternis, lediglich in der hintersten Ecke des riesigen Saals schien ein Licht zu brennen. Allerdings war der Lichtschein sehr schwach. Ahmad bezweifelte, dass er ihn überhaupt bemerkt hätte, wenn die offene Tür nicht bereits die Anwesenheit eines anderen verraten hätte. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, schlich er auf seinen weichen Sohlen durch die Reihen der hohen Schränke, in denen die Schriftstücke aufbewahrt wurden. Hier lag, verpackt in Tausenden mit Korken und Wollfäden versiegelten Bambusrohren, die wohl größte Sammlung von Büchern und Schriften, die es auf der Welt gab. Alles, was für die Regierung von Shangdou von Wichtigkeit war – angefangen mit Handelsbüchern über die umfangreiche Korrespondenz des Khans, Prophezeiungen und Horoskope, wissenschaftliche Bücher und Sammlungen aus allen eroberten Provinzen bis hin zu den Geschichten, Liedern und Dichtungen über die Amtszeit Khubilais. Es war eine so umfangreiche Bibliothek, dass fünf Beamte jeden Tag allein damit beschäftigt waren, die einzelnen Schriften und Bücher in Listen einzutragen und zu registrieren. Vor diesen Ausmaßen empfand sogar Ahmad Ehrfurcht – und das, obwohl er als junger Mann die Bibliothek von Bagdad mit eigenen Augen gesehen hatte.
Doch in diesem Moment hatte er keinen Blick für die Kostbarkeiten, die um ihn herum lagerten. Immer mehr näherte er sich der Lichtquelle. Lautlos huschte er von Schrank zu Schrank, von Ecke zu Ecke. Wie ein Tiger pirschte er sich an seine Beute heran, jederzeit zum Sprung bereit. Und dann sah er ihn, den Mann, der vor ihm in die Schreibstube eingedrungen war. Es war Jiang Wu Sun, Oberster Schreiber und Chronist am Hof des Khans. Er hockte auf seinen Fersen an einem der niedrigen Schreibtische, vor sich eine Schale mit Tinte und in der Hand einen Pinsel. Es war ein feiner, spitz zulaufender Pinsel, einer von der Sorte, mit denen die chinesischen Beamten diese seltsamen Zeichen zu malen pflegten, aus denen die chinesische Schrift bestand. Rasch und mit einer Leichtigkeit, die niemand dem schwergewichtigen Schreiber zutrauen würde, zuckte der Pinsel von oben nach unten über den großen Bogen Papier. Das Licht einer kleinen Talglampe warf seinen schwachen Schein auf sein rundes, schwammiges Gesicht. Jiang Wu Sun war so vertieft in seine Arbeit, dass er Ahmad nicht bemerkte.
Ahmad lächelte. Er an Stelle des Chinesen wäre nicht so leichtsinnig gewesen. Er hätte Fallen um sich herum aufgebaut, die ihn vor heranschleichenden Feinden warnen würden. Und selbst wenn diese Fallen versagen würden, er hätte ihn bemerkt. Er hätte seine schweren Atemzüge gehört, dieses unregelmäßige Schnaufen, das wie das Grunzen eines fetten, gemästeten Schweins klang. Ahmad schüttelte verständnislos den Kopf. Jiang Wu Sun hatte nicht einmal einen Diener als Wache aufgestellt. Entweder war er grenzenlos dumm, oder er war naiv wie ein neugeborenes Kind. Und er beschloss, dem Chinesen eine Lehre zu erteilen und ihn ein wenig zu erschrecken.
Lautlos schlich Ahmad um den Schreiber herum, näherte sich ihm von hinten, bis er ihn fast mit dem Zipfel seines Umhangs berührte. Er mochte zwar seine Jugend schon lange hinter sich gelassen haben, aber verlernt hatte er nichts. Jedes Glied seines Körpers erinnerte sich noch an jede einzelne Bewegung, die Jahre der Übung und der Askese ihn gelehrt hatten. Sein Körper gehorchte ihm immer noch – trotz der Zeit, die mittlerweile vergangen war. Der fleischige, über seine Schreibarbeit gebeugte Nacken des Mannes lag direkt vor ihm – glatt, weich und ungeschützt. Ein Stich mit dem dünnen scharfen Dolch genau an der Stelle, wo der Haaransatz begann, und Jiang Wu Sun war nicht mehr. Der Schreiber würde nicht einmal mehr die Gelegenheit haben, einen Schrei
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